Zu Gast im Studio: Prof Mirjam Wenzel, Direktorin Jüdisches Museum Frankfurt

Markus Appelmann im Gespräch mit der Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, Prof. Mirjam Wenzel, über Antisemitismus und die Situation der Juden nach dem Hamas-Überfall auf Israel am 07. Oktober.

Markus Appelmann, Moderator: Herzlich willkommen zu 17:30 Sat.1 live zwischen den Jahren. In unserer heutigen Sendung blicken wir zurück auf dieses bewegte Jahr – später in der Sendung unser 1730 Jahresrückblick. Doch zu Beginn schauen wir auf den 7. Oktober: Der Tag, an dem ein Zivilisationsbruch ungeahnten Ausmaßes stattfand. Die palästinensische Terror-Organisation Hamas überfiel Israel. Sie wütete und mordete so brutal wie zuletzt im Zweiten Weltkrieg – der von Deutschland ausgehenden nationalsozialistischen Massenvernichtung der Juden. Der 7. Oktober sandte Schockwellen rund um den Globus, und auch zu uns nach Deutschland. Darüber wollen wir heute ausführlich sprechen mit der Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt, die heute unser Gast ist, Professor Mirjam Wenzel. Guten Tag.
Mirjam Wenzel, Direktorin Jüdisches Museum Frankfurt: Guten Tag.
Appelmann: Bevor wir ins Gespräch gehen, zeigen wir Ihre Wirkungsstätte, das Jüdische Museum in Frankfurt.
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Laut gesprochene Namen der Geiseln, entführt von der Hamas, aus Israel in den Gazastreifen. Der 7. Oktober ist im jüdischen Museum zu spüren. Erhöhte Sicherheitsmaßnahmen vor dem Gebäude. Im Inneren: Kunst über einen Kibbuz, der so nicht mehr existiert. „Nir Oz“ wird von den Hamas-Terroristen weitgehend zerstört. Der Krieg ist Thema in einem Museum, das jeden willkommen heißt.
Ein strahlend weißer Bau. Vor drei Jahren wird er eröffnet. Auch als Zeichen, dass jüdisches Leben, jüdische Kultur fest in Frankfurt verankert sind und  ein wichtiger Teil der Gesellschaft sind.
Prof. Mirjam Wenzel, Direktorin Jüdisches Museum Frankfurt
„Wir haben Programme entwickelt, mit denen wir außerhalb des Museums agieren, etwa am berufsbildenden Schulen oder an Grundschulen. Wir geben Stadtführungen, um einen konkreten Bezug auf die Topografie Frankfurts, die jüdisch geprägte Topografie Frankfurts zu nehmen, das heißt, wir agieren maßgeblich auch außerhalb der Mauern, wenn Sie so wollen, dieses Museums.“
Innerhalb der Mauern geht es um das Leben von Juden in Frankfurt, –   zu verschiedenen Zeiten. Es geht um Geschichte, auch um die Geschichte der Familie Rothschild. Der Altbau des Museums ist das ehemalige Wohnhaus dieser berühmten Frankfurter Juden. Es geht um Schicksale, um die Gesichter hinter den Opfern der Shoah. Es geht um aktuelle Standpunkte. Und es gibt eine Sonderausstellung, aktuell über jüdische Filmgeschichte.
In Deutschland verwurzelt und trotzdem entwurzelt. Diese Baumskulptur ist das Wahrzeichen des Jüdischen Museums Frankfurt.
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Appelmann: Entwurzelt. Der 7. Oktober wird womöglich in die Geschichte Israels eingehen als der schwärzeste Tag des Landes. Was war Ihre erste Reaktion, als Ihnen bewusst wurde, was da geschehen ist, das gesamte Ausmaß bewusst wurde?
Wenzel: Nun, das war ja ein Prozess. Ich bin am 7. Oktober morgens aufgewacht, habe Nachrichten bekommen, habe meine Social-Media-Kanäle gecheckt, habe auf einmal Aufnahmen gesehen von Hamas-Kämpfern in den Kibbuzim und da habe ich mich angezogen und bin ins Museum gegangen, weil ich wusste, das kommt zu uns, habe mit der Sicherheit gesprochen, habe sofort die Sicherheit hochgefahren und dann war das dieser Prozess, dass allmählich gewahr wurde das Ausmaß dieses Massakers. Ich habe nach zwei Tagen eine Warnung bekommen, über die Bilder, dass man Bilder nicht öffnen sollte, weil man live das ja gefilmt hatte. Und dann kamen diese ganzen Schreckensnachrichten und das Gewahrwerden der Dimension der 1.200 Toten.
Ich habe über einen Monat hinweg täglich Todesnachrichten bekommen. Das hat ja gedauert. Und das sich vorzustellen hat auch gedauert.
Aber was relativ schnell klar war, war da ist etwas passiert, was so vorher nicht vorstellbar war. Und das ist ein Konfrontiertwerden mit einer Vernichtungsrealität, die es so vorher in Israel auch nicht gegeben hat.
Appelmann: Sie haben ja auch gesagt, Sie haben dann direkt reagiert, sind ins Jüdische Museum gefahren. Was kann denn das Jüdische Museum in Frankfurt in dieser schwierigen Zeit anbieten?
Wenzel: Nun, zunächst mal verstehen wir es als unsere Aufgabe, überhaupt eine bestimmte Dimension des Massakers hier an der Öffentlichkeit zu vermitteln. Etwa die Dimension der Angriffe auf die Kibbuzim, die in der Nähe des Gazastreifens Kibbuzim waren, mit vielen Einwohnern, die sehr aktiv waren in der Friedensbewegung, also ausgesprochen linke, liberale Israelis, auch viele Künstler:innen, die dort gelebt haben, und das hier in eine breitere Öffentlichkeit zu vermitteln, dass es eine unserer Aufgaben. Oder auch bestimmte Dimensionen des Massakers, etwa die Massenvergewaltigungen, die so nicht so deutlich thematisiert wurden.
Aber unsere Hauptaufgabe richtet sich ja auf jüdische Gegenwart in Deutschland. Und mit dem 7. Oktober ist es zu einer Explosion von antisemitischen Gewalttaten gekommen. Jüdinnen und Juden fühlen sich im höchsten Maße unsicher, in Teilen auch alleine gelassen, etwa an den Universitäten.
Appelmanm: Und genau darüber wollen wir heute auch noch sprechen, haben einen Beitrag vorbereitet. Der jüdische Publizist Henryk M. Broder fragte vor kurzem in der Zeitung “Die Welt”: “Was, wenn das der Anfang vom Ende Israels war?” Wie denken Sie darüber?
Wenzel: Also ich denke, dass das eine genozidale Gewalt war, was bedeutet, dass ist ein Konfrontiertwerden mit einem Vernichtungswillen von Seiten der Terroristen. Und dahinter steckt ja ein Kalkül. Es sollten Jüdinnen und Juden weltweit terrorisiert werden. Und das Kalkül steht auch dahinter, dass klar war, Israel wird stark zurückschlagen im Gazastreifen. Und das Kalkül ist auch, dass Israel quasi sich damit isoliert aus der internationalen Gemeinschaft.
Und wir sehen, wie es eigentlich jetzt in der Kritik an der Kriegsführung im Gazastreifen, die man ja haben kann, aber doch auch eine Isolation gibt Israels, und das ist ein Teil des Kalküls, und das ist natürlich auch ein Teil der Gefahr. Und es ist einfach eine Realität, die so in Deutschland nicht bewusst ist, dass Israel nicht nur umringt ist von Feinden, sondern dass es eine Stimmung gibt, weltweit, die Israel wahrnimmt als “siedlerkoloniales Apartheid-Projekt”, was so keine Legitimität hat.
Appelmann: Sie sprechen gerade diese Isolation an. Israel ist ja im Nahen Osten das einzige Land, das demokratisch verfasst ist, das Werte lebt, freiheitliche Werte lebt, wie wir sie kennen auch im Westen. Warum verfängt der Gedanke der Freiheit, der Gleichberechtigung der Geschlechter in diesen islamischen Gesellschaften überhaupt nicht?
Wenzel: Ich denke, es hat mit Werten zu tun. Die Werte in unserer westlichen Welt basieren sehr stark auf der Idee der Entfaltung des Individuums und dessen Möglichkeiten. Und die Werte in der islamischen Welt sind sehr viel stärker patriarchal und sehr viel stärker gemeinschaftsorientiert und die individuelle Entfaltung ist nicht so ein Wert. Und die neue Situation, die wir haben, ist, dass sich dieses religiös geprägte, fundamentalistische in Teilen, Weltbild kombiniert mit anderen Weltbildern etwa von China oder von Russland, wo auch das Individuum nicht so zählt.
Das heißt, Sie haben eine zunehmende zuspitzende Konstellation von Allianzen weltweit, eine Konstellation von muslimisch geprägten Ländern mit den BRICS-Staaten, also sozialistisch geprägt, aber in denen das Individuum auch nicht so zählt. Und das ist quasi die neue Alternative zu der westlichen Welt und das ist sehr gefährlich in der neuen Konfliktkonstellation, die sich da abzeichnet. Und das konzentriert sich in Israel, weil Israel ein Land ist, in dem seit langem globale Konflikte sich auch noch mal widerspiegeln.
Appelmann: Werfen wir nun einen Blick zurück nach Deutschland, auf die Situation der jüdischen Bürger hier bei uns. Denn für sie ist nach dem 7. Oktober kaum noch etwas, wie es vorher war.
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Antisemitische Kundgebungen, Davidstern-Markierungen an Häusern mit jüdischen Bewohnern – die jüdische Gemeinschaft durchlebt in diesen Wochen die womöglich dramatischste Zeit seit 1945.
Sigal und Nir Rosenfeld betreiben einige Restaurants in Frankfurt, so auch das vegane Life Deli im  Jüdischen Museum. Sie überlegen in diesen Tagen, ob sie überhaupt länger in Deutschland bleiben können.
Nir Rosenfeld, jüdischer Gastronom
„Wir haben immer noch Angst natürlich, auf die Straße zu laufen, mit Davidstern, mit der Israel-Fahne, mit Kippa oder Hebräisch zu sprechen in mehreren Orten. Es wird jeden Tag schlimmer, durch diese Hassverbreitung.“
Sigal Rosenfeld, jüdische Gastronomin
„Wir haben dieses Gefühl auch noch nie so gehabt, das muss ich ganz ehrlich sagen. Ich sage auch meinem Sohn jeden Tag, er soll in der Schule aufpassen, er soll nichts sagen, nichts zeigen, sich zurückhalten, sich nicht outen, tatsächlich.“
Der Staat Israel war bis zum 7. Oktober wie eine Lebensversicherung für Juden in aller Welt. Diese existiert nicht mehr. Für viele Juden – auch hier in Deutschland – eine beklemmende Vorstellung! War doch Israel seit seiner Gründung 1948 der sichere Hafen, den sie in der Not hätten anlaufen können.
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Appelmann: Ja, die Rosenfelds, die fühlen sich in Deutschland derzeit alleine gelassen. Sie haben Angst, Sie fühlen sich im Stich gelassen. Und das ist kein Einzelfall. Was hören Sie?
Wenzel: Wir arbeiten ja eng zusammen mit den Rosenfelds. Und das ist nicht nur – in Anführungszeichen -, dass sie sich “alleingelassen fühlen”, sondern sie werden wirklich bedroht. Sie kriegen Anrufe und ihnen wird gesagt: “Beim letzten Mal hat man euch wohl vergessen, dieses Mal werdet ihr dran sein.” Die Tochter ist zweite Generation, Holocaustüberlebende, Nir ist dritte Generation. Sie werden systematisch terrorisiert und das ist eine Realität von Jüdinnen und Juden heute in Deutschland, dass es auf die Person geht.
Eine andere Kollegin von uns hat am 9. November vor ihrem Haus ein Hakenkreuz gefunden. Auch in Frankfurt wurden viele Häuser markiert mit Davidstern. Es geht auf die Person in der antisemitischen Bedrohung und das verunsichert, das verängstigt und es gibt jetzt einfach einen großen Rückzug. Sigal beschreibt das in dem Beitrag auch. Nicht mehr öffentlich werden, nicht mehr kenntlich sein als Jüdinnen und Juden und das ist eine Katastrophe, dass das passiert.
Appelmann: Vor diesem Hintergrund, ist die deutsche Gesellschaft Ihrer Meinung nach solidarisch genug? Erwarten Sie mehr von der deutschen Gesellschaft oder vielleicht sogar zugespitzt gesagt: Sind Sie enttäuscht von dem Deutschland anno 2023?
Wenzel: Ich erwarte, was Antisemitismus angeht, sehr viel mehr. Ich erwarte, dass die Zahlen ernst genommen werden, die wir schon seit Jahren haben. Jedes Jahr einen frappierenden Anstieg, jetzt seit dem 7. Oktober eine Vervierfachung, aber schon davor. Wir haben den Antisemitismus der Verschwörungserzählungen, der auf den Corona-Demonstrationen deutlich geworden ist. Wir haben den rechtsextremen Antisemitismus der Jüdinnen und Juden auch geheime Mächtigkeit unterstellt und sie entlarven will. Wir haben den tradierten Antisemitismus eher aus der Mitte der Gesellschaft. Jetzt diesen Israel bezogenen, oft auch links aktivistischen Antisemitismus, der Israel mit dem Nationalsozialismus gleichsetzt. Es ist sozusagen ein Gebräu aus allen Ecken und Enden, was sich gegenseitig verstärkt. Und ich erwarte eine Verantwortung der breiten deutschen Gesellschaft, dass sie sagt: In diesem Land, was verantwortlich war für den Holocaust, sind wir heute verantwortlich dafür, dass Jüdinnen und Juden hier sicher leben können und selbstbewusst sich entfalten können.”
Appelmann: Lassen Sie uns zum Ende noch ein paar zuversichtliche Bilder zeigen. Auf dem Marktplatz in Bad Homburg Anfang des Monats. Hier feiert man das jüdische Lichterfest Chanukka seit vielen Jahren öffentlich als Zeichen der Solidarität mit der jüdischen Gemeinde in Bad Homburg. Ist dieses Lichterfest ein kleiner Lichtblick, der uns in das neue Jahr hilft?
Wenzel: Chanukka ist ein selbstbewusstes Fest. An Chanukka feiert man, dass es gelungen ist, den Tempel wieder einzuweihen und dass das Öllämpchen, das vor Ort gefunden wurde, in dem entweihten Tempel, dass das Öl reicht, um acht Tage lang die Menora brennen zu lassen, bis genügend neues geweihtes Öl vorhanden war. Das ist das Wunder von Chanukka. Es ist ein ermunterndes Fest, was aufrichten soll, was eben zeigt, es ist gelungen, den Tempel wieder einzuweihen. Und es war in diesem Jahr ein wichtiges Fest.
Appelmann: Danke schön für diese Worte an Professor Mirjam Wenzel, die Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt, heute unser Gast in 17 30.
Wenzel: Sehr gerne. Vielen Dank für das Gespräch.