Umstrittener Verkehrsversuch – Gießen baut Anlagenring teilweise in Radweg um

Die Stadt Gießen hat ein umstrittenes Verkehrsprojekt gestartet. In den kommenden Wochen wird die wichtigste innerstädtische Verkehrsachse, der Anlagenring, zur Hälfte in einen Fahrradweg umgebaut. Was Fahrradfahrer und Umweltschützer freut, sorgt bei Autofahrern und Geschäftsleuten für Verdruss. Sie befürchten Staus und Umsatzeinbußen.

Hier, an der Ostanlage in Gießen, hat der Umbau bereits begonnen: Während die eine Seite der sechsspurigen Hauptverkehrsachse noch für den Autoverkehr zur Verfügung steht, ist die andere Seite bereits abgesperrt – sie wird schon bald zum wohl breitesten Fahrradweg in ganz Hessen. Und das ist erst der Anfang: Nach und nach will die Stadt den gesamten Anlagenring rund um die Innenstadt für Autos zur Einbahnstraße erklären. Eine äußerst umstrittene Maßnahme.
Brigitte Weber
„Ich finde es schon ganz gut, dass in Zukunft mehr für die Fahrradfahrer gemacht wird.“
Scharbel Saffo
„Ich mache gerade meinen Führerschein. Und wenn ich da irgendwo ’ne Straße fahren will, und da jetzt Fahrradfahrer rumkommen und meine Straße klauen, also davon halte ich echt nichts.“
Thomas Döll
„Ich befürchte und ich sehe es auch, dass die Leute uns jetzt schon sagen, dass sie aus dem Umland nicht mehr kommen. Dass sie nach Wetzlar fahren, dass sie im Internet bestellen.“
Ulrike Weckel
„Sehr gut. Ich bin Fahrradfahrerin und bin immer noch mit dem Leben davon gekommen. Aber das ist knapp. Gerade diese Kreuzung ist die Pest. Und dass Autofahrer sich überlegen, sie lassen das Auto lieber stehen und kommen mit dem Fahrrad in die Innenstadt, finde ich super.“
Ziel der grün-rot-roten Stadtregierung: Den Anteil der Radfahrer in der Stadt innerhalb von zehn Jahren verdoppeln, den der Autofahrer gleichzeitig halbieren.
Alexander Wright (Bündnis 90 / Die Grünen), Bürgermeister Gießen
„Es geht einfach darum, dass wir den Radverkehrsanteil hier in der Stadt weiter fördern. Und dass mehr Leute sich einfach auch entscheiden, auf das Rad zu steigen. Und dass oft immer, wenn man fragt: ‚Warum fährst Du nicht Rad?‘ – ‚Das ist mir zu unsicher.‘ Und hier schaffen wir eben eine sichere Strecke.“
Gerade der stark befahrene Anlagenring stelle für Radfahrer bislang eine regelrechte Barriere dar. Die Geschäftsleute in der Innenstadt stellen sich jedoch eher die Frage, ob der neue Superfahrradweg künftig vielleicht eher eine Barriere für potentielle Kunden darstellt. Das wolle man nun erst mal genau beobachten, sagt der Vorsitzende der Interessengemeinschaft BID Seltersweg. Denn noch könne niemand sagen, welche Auswirkungen das Projekt auf den Handel in der Innenstadt habe.
Heinz-Jörg Ebert, Interessengemeinschaft Seltersweg
„Ich nehme den Bürgermeister Wright beim Wort, der immer davon gesprochen hat und es unterstrichen hat, es ist ein offener Prozess. Wir selbst werden mit erhobenen Daten ein Partner sein.“
Frederik Bouffier und Lucas Schmitz sind weniger optimistisch: Die beiden CDU-Politiker fordern den sofortigen Abbruch des Verkehrsversuchs. In einer Online-Petition haben sie innerhalb von nur vier Tagen mehr als 11.500 Unterschriften gegen das Projekt gesammelt.
Frederik Bouffier, CDU, Landtagskandidat
„Dieses Verkehrsprojekt setzt sozusagen die Axt an die verkehrliche Infrastruktur unserer Stadt. Wir haben keinerlei Abbruchkriterien. Wir haben keinerlei Informationen darüber, wann dieser Versuch, der als solcher deklariert wird, erfolgreich gewesen sein soll. Wann er gegebenenfalls nicht erfolgreich war.“
Lucas Schmitz, CDU, Landtagskandidat
„Es sind die Menschen aus dem Umland, die jeden Tag nach Gießen reinfahren. Ob sie zur Arbeit gehen, ob sie zum Arzt gehen, ob sie einfach nur eine Erledigung besorgen wollen. Und durch diesen Verkehrsversuch bedeutet das deutlich längere Fahrtzeiten. Stau.“
Durch den Versuch werde es nicht weniger Autos in der Stadt geben – diese würden sich nur neue Wege suchen und auf bislang eher weniger stark befahrene Straßen ausweichen, glaubt die CDU.
Bis auf weiteres hält die Stadt jetzt aber erst mal an ihrem Verkehrsversuch fest. Bis Oktober soll der komplette Anlagenring fahrradfreundlich umgebaut sein. Kostenpunkt für das Projekt, das zunächst auf ein Jahr ausgelegt ist: Rund 1,7 Millionen Euro.