Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche

Über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche haben wir schon oft berichtet. Jetzt gibt es erstmals eine deutschlandweite Studie zu Missbrauchsfällen in der evangelischen Kirche. Doch dieser Einblick ist wohl nur die Spitze des Eisbergs.

Mindestens 1.259 Täter, die sich an mindestens 2.225 Opfern vergangen haben. Das sind die erschreckenden Zahlen, die die aktuelle Studie zu sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland zu Tage gebracht haben. Die Dunkelziffer dürfte laut den Verfassern der Studie um ein Vielfaches höher liegen. Untersucht wurde der Zeitraum zwischen 1945 und 2020.
Vier Jahre lang hat eine Gruppe von Forschern der Hochschule Hannover Akten der einzelnen Landeskirchen, der Diakonien sowie der diakonischen Werke unter die Lupe genommen und dabei auch untersucht, welche Strukturen innerhalb der Kirche Gewalt und Machtmissbrauch begünstigen. Die Studie richtet ihren Blick nicht nur auf Pfarrer und andere geistliche Würdenträger innerhalb der evangelischen Kirche, sondern etwa auch auf Erzieher in Heimen, Kirchenmusiker und ehrenamtliche Jugendleiter.
Dabei lagen den Forschern vor allem Disziplinarakten vor – und damit auch Berichte über Vorwürfe sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiter der evangelischen Kirche in Deutschland.
Für ein umfassenderes Bild über mögliche Missbrauchsfälle wollten die Wissenschaftler auch alle Standard-Personalakten aller Pfarrer und Diakone auswerten – bislang sind jedoch nicht alle Landeskirchen dazu bereit, sensible Datensätze über ehemalige und aktuelle Mitarbeiter freizugeben.
Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, die einen Großteil Hessens sowie einen Teil von Rheinland-Pfalz umfasst, berichtet von 45 Verdachtsfällen seit der Nachkriegszeit, von denen sich etwa die Hälfte bestätigt habe. Die Täter seien dabei fast immer Pfarrer gewesen.
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Markus Appelmann, Moderator: Darüber sprechen wir jetzt mit dem Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau Volker Jung. Guten Abend.
Volker Jung, Präsident Evangelische Kirche in Hessen und Nassau: Guten Abend, Herr Appelmann.
Appelmann: Herr Jung, wir haben gehört, dass manche Landeskirchen nicht alle Unterlagen zur Verfügung gestellt haben, was die Studie natürlich erschwert hat. Wie bewerten Sie diese Studie?
Jung: Wir haben als Evangelische Kirche in Hessen und Nassau alle geforderten Unterlagen zur Verfügung gestellt. Das heißt, sie haben alle Disziplinarakten durchgesehen. Wir sind darüber hinausgegangen, haben alle Beschwerdeakten eingesehen und die Information natürlich weitergegeben. Darüber hinausgehend könnten jetzt noch alle Personalakten durchgesehen werden. Da stehen wir selbstverständlich zur Verfügung, wenn dies dann gefragt ist, da ist vielleicht sogar eine neue Studie erforderlich. Die Studie insgesamt ist trotzdem eine außerordentlich wertvolle Studie, weil insbesondere mit Betroffenen gearbeitet wurde. Und diese Aussagen aufzunehmen und ernst zu nehmen, das gibt uns wesentliche und wichtige Hinweise für unsere weitere Arbeit.
Appelmann: Lassen Sie uns über die Konsequenzen sprechen: Welche wurden bereits gezogen und was muss jetzt passieren, damit so etwas nicht mehr passiert?
Jung: Wir haben seit 2010 intensiv das Thema sexualisierte Gewalt bearbeitet, sind jedem Hinweis und allem nachgegangen, was an uns herangetragen wurde, sind auch darüber hinausgegangen, etwa bei der Erforschung von Heimkindersituationen. Wir haben Meldestellen eingerichtet, die jetzt auch anonymisiert im Netz zur Verfügung stehen. Das heißt, wir versuchen, weiter in der Prävention zu arbeiten. Wir haben auch verabredete Verfahren für die Intervention, dann, wenn Krisensituationen da sind und Menschen sich bei uns melden. Und wir sind da, um die Menschen, die sich bei uns melden, persönlich zu begleiten und dann auch Verfahren auf den Weg zu bringen, wo dies in Abstimmung mit den Betroffenen gewünscht und erforderlich ist.
Appelmann: Es gibt Vorwürfe, dass viele Fälle sexuellen Missbrauchs nicht untersucht worden seien. Was muss konkret passiert, damit die Aufklärung weitergeht?
Jung: Wir werden jetzt die Ergebnisse der Studie auch aufnehmen und auswerten und werden auch noch mal schauen, welche strukturellen Risiken gibt es in unserer Kirche, und wir werden das in die weiteren Maßnahmen einfließen lassen. Und wir werden selbstverständlich auf jede Meldung, die an uns herangetragen wird, reagieren und Menschen entsprechend begleiten. Wenn Menschen sich jetzt durch die Studie ermutigt fühlen, sich zu melden, weil sie persönlich betroffen sind, dann begrüßen wir das sehr und sichern zu, dass wir alles tun wollen, um ihnen zum Recht zu helfen.
Appelmann: … sagt Volker Jung, der Kirchenpräsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau
Jung: Ich danke Ihnen.