Steigende Inzidenzen und Corona-Lockerungen – Interview mit Kai Klose

Die bundesweite Inzidenz liegt heute bei 1.293,6 und steigt damit den sechsten Tag in Folge. Verschärft sich die Lage nochmal kurz vor dem 20. März, dem Tag, an dem die Corona-Schutzmaßnahmen eigentlich fallen sollen? Und muss dem „Freedom Day“ dann doch nochmal ein Riegel vorgeschoben werden?

Freie Fahrt in Richtung „Freedom Day“. Pünktlich zum kalendarischen Frühlingsanfang sollen am 20. März alle tiefgreifenden Corona-Schutzmaßnahmen passé sein. Doch seit gut einer Woche steigt die Zahl der Corona-Neuinfektionen wieder. Droht diese Entwicklung die herbeigesehnte Freiheit auszubremsen?
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sieht einen Grund für die steigenden Zahlen im sich ausbreitenden Subtyp der Omikron-Variante, BA.2. Nachdem diese neue noch ansteckendere Variante in der Woche bis zum 20. Februar bereits 38% des Infektionsgeschehens ausgemacht hat, dürfte sie nach Lauterbach mittlerweile vorherrschend sein.
Auch Versammlungen und private Feiern rund um Fastnacht letzte Woche könnten sich gerade in den steigenden Zahlen niederschlagen.
Konkreter lässt sich das aber nicht sagen. Denn weil die Gesundheitsämter überlastet sind, werden die Kontakte von Corona-Infizierten schon seit Wochen nicht mehr nachverfolgt.
Unklar ist auch, zu welchem Anteil die Bevölkerung gegen das Coronavirus immunisiert ist. 75,6% der Bürger sind mittlerweile zweifach geimpft. Doch es gibt keine Zahl darüber, wie viele ungeimpfte Genesene es gibt.
Klar scheint nur, die Impfkampagne erreicht kaum noch jemanden. Auch das neue Vakzin von Novavax ist bereits direkt zum Impfstart letzte Woche weit hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben.
Obwohl die Stadt Wiesbaden über 4.000 Impfdosen zur Verfügung hat, haben sich binnen einer Woche nicht mal 150 Menschen mit Novavax impfen lassen.
Zu groß ist die Anzahl derer, die sich auch in Zukunft unter keinen Umständen gegen Corona impfen lassen möchten.
Dr. Volker Heyl, Mobiles Impfen Wiesbaden am 02.03.2022
„Da ist eine allgemeine Skepsis da. Und das sind die Leute, die man auch nicht mehr erreichen kann. Also unsere Vorgehensweise, die Leute mit medizinischen Sachargumenten zu überzeugen oder mit epidemiologischen Daten, mit Studienergebnissen, da hat man den Eindruck, dass man da ins Leere läuft.“
Der Weg in Richtung Freedom-Day – in den nächsten beiden Wochen wird sich zeigen, wie frei er wirklich ist.
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Eva Dieterle, Moderatorin: Und über die aktuelle Situation spreche ich jetzt mit dem hessischen Gesundheitsminister Kai Klose.
Kai Klose, B’90 / Grüne, Gesundheitsminister Hessen: Guten Abend.
Dieterle: Herr Klose, die Inzidenzen steigen. Der Frankfurter Virologe Martin Stürmer sagt, das liegt unter anderem daran, dass Sie zu früh gelockert haben. Was sagen Sie dazu?
Klose: Es ist ja eine Verabredung der Ministerpräsidentinkonferenz gewesen, in diesen Stufen zu lockern. Ich finde es richtig, dass man sich bundesweit auf einen solchen Stufenplan verständigt hat, und wir vollziehen das in Hessen wie auch in Rheinland Pfalz nach, was dort vereinbart war. Die Omikronvariante scheint weiterhin vorherrschend zu sein, aber der Scheitelpunkt der Welle ist wohl doch überschritten. Es kommt aber trotzdem darauf an, dass wir nicht alle Vorsicht fahren lassen. Und auch wenn man Masken nicht mehr überall tragen muss, kann ich nur empfehlen, es immer dann zu tun, wenn man Abstände nicht halten kann, wenn man in größeren Gruppen ist.
Dieterle: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach warnt vor einer neuen Welle im Sommer. Wie passt das zu den weiteren Lockerungen, die geplant sind?
Klose: Nun, es kann im Moment niemand sagen, wie die weitere Entwicklung sein wird, ob der neue Virus Varianten sehen, ob wir möglicherweise auch wieder ansteigende Wellen sehen. Wenn wir sie sehen, wird es wichtig sein, dass es auch Instrumente gibt, um ihr wieder begegnen zu können. Es kann also sehr wohl sein, dass wir auch wieder in Beschränkung hinein müssen. Die Erfahrung des letzten und vorletzten Jahres zeigt aber, dass jetzt bei der besser werdenden Witterung und der Tatsache, dass wir uns alle stärker draußen aufhalten, in der Regel doch ein Abflachen des Infektionsgeschehens zu beobachten ist.
Dieterle: Seit kurzem ist der neue Impfstoff von Novavax verfügbar. Es hat allerdings keinen neuen Schub bei den Impfungen gegeben, auch in Hessen nicht. Das haben Sie deutlich anders erwartet, oder?
Klose: Nun, wir haben alle große Hoffnungen gehabt in diesen Impfstoff. Allerdings müssen wir feststellen, dass das Misstrauen gegenüber den mRNA-Impfstoffen, das ja von denjenigen, die sich immer noch nicht haben impfen lassen, oft als Grund genannt worden ist, offensichtlich nur ein vorgeschobener Grund war, denn Novavax ist ein herkömmlicher Protein-Impfstoff. Sie lassen sich trotzdem damit nicht impfen. Das zeigt uns, dass das nicht der wahre Grund gewesen ist. Ich glaube, dass wir mittelfristig nicht um eine allgemeine Impfpflicht drumherumkommen, insbesondere dann, wenn wir im Herbst / Winter nicht wieder in schwierige Infektionslagen hineinkommen wollen.
Dieterle: Ich wollte gerade sagen: Wäre da eine allgemeine Impfpflicht jetzt nicht noch dringender? Oder beschleicht Sie auch ab und an der Gedanke, dass die gar nicht kommen wird?
Klose: Ich trete schon seit November für eine allgemeine Impfpflicht ein, weil ich glaube, dass das der einzige Weg ist, um uns aus diesem ewigen Jojo, das wir erleben, auch hinauszuführen. Und die Tatsache, wie jetzt mit Novavax umgegangen wird, bestärkt mich in dieser Einschätzung.
Dieterle: Müssen Sie nicht irgendwann auch einfach hinnehmen, dass ein gewisser Teil der Menschen sich nicht impfen lassen will und das auch nicht tun wird?
Klose: Doch, das kann so sein, deshalb ist die Impfpflicht so wichtig. Wir müssen eine bestimmte Quote erreichen, um nicht ständig wieder in diese Situation zu kommen. Und unser oberstes Ziel ist ja, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird. Wenn das jetzt nur eine individuelle Entscheidung dieser Leute wäre, könnte man sagen: „Es ist euer Risiko, dann müsst ihr damit leben. Ihr habt ein sehr hohes Risiko, schwer zu erkranken, wenn ihr infiziert werdet“. Aber das ist eben nicht so, sondern wir haben ja in den zuvor stattgefundenen Wellen gesehen, dass dann das Gesundheitssystem sehr stark belastet wird und darunter leiden wiederum andere, die vielleicht völlig andere Beschwerden haben, aber dringend auf ein Intensivbett angewiesen sind, und das können wir uns nicht erlauben.
Dieterle: Zum Schluss noch ein kurzer Blick in die Zukunft auf den 20. März und darüber hinaus. Welche Schutzmaßnahmen werden dann in Hessen noch bestehen bleiben?
Klose: Ich hoffe sehr, dass die Bundesregierung sich zu einem verantwortungsvollen Fortschreiten des Infektionsschutzgesetzes durchringen kann. Es ist elementar für die Länder, dass wir weiter die Option haben, im Fall eines stärkeren Infektionsgeschehens auch wieder einzugreifen, dass uns diese Optionen nicht aus der Hand geschlagen werden. Keiner wird das fahrlässig ergreifen wollen, aber die Möglichkeiten müssen da sein.
Dieterle: Gesundheitsminister Kai Klose, vielen Dank für das Interview.
Klose: Vielen Dank.