Kreis erklärt Wohnungsnutzung für illegal

In vielen Städten und Ballungsgebieten wie der Rhein-Main-Region ist Wohnraum knapp. Da hilft nur mehr bauen und vorhandene Flächen effizienter nutzen. Umso absurder klingt eine Geschichte aus dem hessischen Pfungstadt. Mieter sollen dort aus ihren teils frisch sanierten Wohnungen ausziehen – weil laut dem Landkreis Darmstadt-Dieburg keine Baugenehmigung für die Häuser vorliegt.

Seit 27 Jahren wohnen Reinhold und Monika Hertweck schon in ihrer Wohnung „An der neuen Bergstraße“ in Pfungstadt. Eine abgelegene kleine Siedlung, direkt neben einer Kaserne. Dort arbeitete Reinhold Hertweck früher. Die Bundeswehr hat ihm und seiner Frau die Wohnung damals zugeteilt. Dann, viele Jahre später, kommt plötzlich ein Schreiben vom Landkreis: Das Ehepaar soll ausziehen.
Reinhold Hertweck, Mieter „An der neuen Bergstraße“
„Sehr geehrter Herr Hertweck, wir haben festgestellt, dass Sie eine Wohnung in dem Mehrfamilienhaus auf o.a. Grundstück bewohnen, für die keine Baugenehmigung vorliegt.“
Die Genehmigung von 1961 gelte nur in Zusammenhang mit der benachbarten Kaserne. Die jetzige zivile Nutzung sei illegal. Das gelte für alle 36 Wohnungen der Siedlung.
Reinhold Hertweck, Pensionär
„Für jeden normalen Bürger ist das unverständlich, wenn man so etwas bekommt auf einmal. Wie kann so was passieren, dass hier Nutzungsrecht wegfällt, Mietrecht und so weiter? Das war doch vorher alles geklärt.“
Die Situation ist für das Ehepaar sehr belastend. Monika Hertweck hat eine Gehbehinderung, deshalb will sie in der Wohnung bleiben. Alle leben gerne hier, das erzählt uns auch diese Mieterin. Vor kurzem seien sogar noch neue Leute eingezogen, mit dem Einwohnermeldeamt habe es keine Probleme gegeben. Nichts sieht hier nach Räumung aus. Die Vonovia, der die Häuser gehören, lässt gerade neue Wasserleitungen verlegen. Der Immobilienkonzern hält das Nutzungsverbot für rechtswidrig und klagt.
Olaf Frei, Sprecher Vonovia
„Weil wir, von der Vonovia, der Überzeugung sind und der begründeten Ansicht, dass die Baugenehmigung von 1961, die hier erteilt wurde, ohne Auflagen weiterhin gültig ist und deswegen stehen wir jetzt an der Stelle juristisch an der Seite unserer Mieter.“
Der Landkreis sieht das anders. Die Bauaufsicht teilt uns auf Anfrage mit:
Zitat Sprecherin Bauaufsicht Darmstadt-Dieburg
„Die Umnutzung von ehemals militärischer Wohnnutzung in eine ‚zivile Wohnnutzung‘ stellt eine baugenehmigungspflichtige Nutzungsänderung dar. Diese wurde nie beantragt, daher ist die derzeitige Wohnnutzung dort formell baurechtswidrig.“
Heißt: Die Stadt könnte für die Wohnungen noch nachträglich eine Genehmigung beantragen. Das will sie aber gar nicht, erklärt uns der Bürgermeister. Denn die Häuser lägen so weit außerhalb, dass die Feuerwehr dort nicht in der gesetzlich vorgeschrieben Zeit ankommen könne. Extra eine Feuerwache zu errichten, sei für die Steuerzahler zu teuer.
Patrick Koch, SPD, Bürgermeister Pfungstadt
„Wenn dort wohnen nicht zulässig ist, weil wir den Brandschutz nicht gewährleisten können – ich möchte Sie sehen, wenn da was passiert und die Feuerwehr kommt nicht rechtzeitig hin. Dann kommen die Medien zu mir als Bürgermeister und sagen: ‚Wie können Sie das zulassen, dass da Menschen wohnen?‘. Das ist genau die umgekehrte Medaille. Dieselben Leute, die jetzt sagen: ‚Der setzt die Mieter vor die Tür‘, die würden dann sagen: ‚Wie kann der da nicht den Brandschutz gewährleisten, wie kann der sowas zulassen?‘.“
Die Anwohner vermuten, dass etwas anderes dahinter steckt: Das Unternehmen R-Biopharm, das direkt gegenüber liegt, wolle sich vergrößern und habe ein Auge auf das Grundstück geworfen. Die Pläne zu expandieren bestätigt uns das Unternehmen, aber:
Zitat Sprecherin R-Biopharm AG
„Die Pläne des Landkreises Darmstadt-Dieburg, die Wohnsiedlung […] räumen zu wollen, kennen wir nur aus der Presse. Die Frage nach dem Kauf oder der Nutzung des erwähnten Grundstücks stellt sich uns nicht. Uns wurde das Grundstück weder angeboten, noch ist uns bekannt, dass es heute oder in Zukunft für eine gewerbliche Nutzung zur Verfügung steht.“
Die Vonovia geht davon aus, dass sie mit ihrer Klage Erfolg haben wird. Der Bürgermeister hält sie hingegen für eine PR-Aktion des Immobilienkonzerns. Ein kleiner Lichtblick für die Bewohner: Der Rechtsstreit wird vermutlich mehrere Jahre dauern. Bis dahin können alle in ihren Wohnungen „An der neuen Bergstraße“ bleiben.