Im Interview: Axel Wintermeyer, der Chef der Hessischen Staatskanzlei

Eva Dieterle spricht mit Axel Wintermeyer über seine Einschätzung der hessischen Coronalage.

Eva Dieterle, Moderatorin: Und jetzt möchten wir über die Lage in Hessen sprechen und deswegen begrüße ich bei mir den Chef der Hessischen Staatskanzlei, Axel Wintermeyer. Guten Abend!
Axel Wintermeyer, CDU, Chef der Staatskanzlei Hessen: Hallo Frau Dieterle.
Dieterle: Herr Wintermeyer, wir reden über die Coronalage und schauen mal ein Jahr zurück. Da hat der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier in seiner Silvesteransprache gesagt: “ Ich wünsche uns allen, dass 2021 das Jahr sein wird, in dem wir Corona überwinden“. Ja, jetzt, ein Jahr später, wissen wir alle, dass leider eher das Gegenteil der Fall ist. Wie schätzen Sie denn die aktuelle Coronalage in Hessen ein?
Wintermeyer: Also, die Lage ist in Hessen wie in der Bundesrepublik, aber auch in Europa, nach wie vor sehr ernst. Wir können keine Entwarnung geben. Das Virus ist unkalkulierbar, das muss man zweifelsfrei sehen. Und ich glaube, dass wir aber sehr viel weiter sind als letztes Jahr, deswegen, weil wir haben bei uns in Hessen zum Beispiel schon 70% der Menschen durchgeimpft. Wir haben übrigens 20% Booster-Impfungen auch jetzt schon gesetzt, alleine diese Woche 450.000 Booster-Impfungen. Also, wir kommen schon weiter und es ist nicht mehr so ein Lockdown-Gefühl wie letztes Jahr. Aber der Virus ist noch nicht überwunden und ich fürchte, das wird auch noch einige Zeit dauern.
Dieterle: Jetzt haben Wissenschaftler ja schon sehr zeitnah vor dieser vierten Welle gewarnt. Und doch haben wir jetzt Inzidenzen, die sind höher als jemals zuvor. Warum hat da die Politik nicht früher dagegengehalten?
Wintermeyer: Also, die Experten sagen sehr viel, und zwar ziemlich viel Unterschiedliches. Der Chef der Ständigen Impfkommission als Beispiel hat noch im September gesagt: Wir brauchen keine Booster-Impfung. Also, ich sage mal, wir leben in der Lage in der Gegenwart. Und wir haben jetzt zur Kenntnis genommen, dass es wirklich noch eine stärkere Welle gegeben hat, was auch sicherlich am Verhalten der Menschen liegt.
Wir müssen einfach wissen, wir können den Virus nur durch Impfen besiegen natürlich, aber auch durch unser Verhalten, durch Maske tragen, Hygiene und möglichst auch große Menschenansammlungen zu meiden. Und ich glaube, dass wir die vierte Welle jetzt so einigermaßen den Top erreicht haben. Aber für uns ist es wichtig, dass wir sie möglichst schnell runter kriegen, weil die Situation in den Krankenhäusern, auch in den Intensivstationen, ist nach wie vor kritisch, um nicht zu sagen teilweise besorgniserregend.
Dieterle: Intensivbetten ist das Stichwort für meine nächste Frage. Inmitten der Pandemie wurde die Zahl der verfügbaren Intensivbetten reduziert. Dafür hat es harte Kritik gegeben und völliges Unverständnis. Wie kann das sein?
Wintermeyer: Also zunächst mal ist nicht die Anzahl der Intensivbetten reduziert worden. Wir haben genügend Betten, genügend Intensivbetten. Unser eigentliches Problem ist das Personal. Das sind die Pflegerinnen und Pfleger und die Ärztinnen und Ärzte, die eine hervorragende Arbeit leisten. Aber wir haben heute ungefähr 30% weniger Intensivpflegepersonal als noch im März diesen Jahres.
Diese Menschen sind auch an der Grenze dessen, was machbar ist. Da kann ich über Corona-Prämien oder sonst irgendwas sprechen., das eigentliche Problem ist, dass die Intensivstationen zu voll sind. Und wenn Sie mir das noch gestatten, auch da wieder mein Aufruf, sich zu impfen. Warum? 2/3 aller Menschen, die bei uns in Hessen intensiv liegen, sind ungeimpft. Und ich finde das unglaublich wichtig, dass die ihre Verantwortung, die Ungeimpften, auch wahrnehmen gegenüber der Gesellschaft, aber auch gegenüber unserem Gesundheitssystem.
Dieterle: Ich möchte noch mal kurz bei den Intensivbetten bleiben oder beim Personal dafür. Als Laie geht man davon aus, dass gerade in Krisenzeiten in diesem Bereich aufgestockt wird. Das ist aber nicht passiert. Das ist und bleibt doch unverständlich.
Wintermeyer: Ich habe es gerade eben gesagt, wir können nicht aus einer normalen Krankenschwester eine Intensivschwester machen innerhalb von zwei Wochen. Das geht nicht. Das ist ein Prozess, das ist fast ein Studium …
Dieterle: Wir reden aber in der Pandemie von zwei Jahren.
Wintermeyer: … im weitesten Sinne. Und das zweite ist, dass sehr, sehr viele Intensivpflegekräfte natürlich auch innerhalb dieser zwei Jahre denn ihren Job aufgegeben haben, aus diversesten Gründen, die sich jeder auch vorstellen kann, aber wir nicht schnell genug entsprechenden Nachwuchs bekommen. Und ich finde es auch nicht gut, wenn wir im Ausland welche abwerben, wo im Ausland auch Intensivpflegekräfte gebraucht werden.
Dieterle: Spitzenpolitiker aller Parteien haben lange Zeit eine allgemeine Impfpflicht ausgeschlossen. Jetzt kommt sie doch, zumindest erst mal für Mitarbeiter von Kliniken und Pflegeheimen. Viele bezeichnen das als eine Kehrtwende. Verliert die Politik so nicht auch an Glaubwürdigkeit?
Wintermeyer: Also, ich glaube, dass Politik durchaus, die auch in der Gegenwart lebt im weitesten Sinne, gestattet sein muss, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn man merkt, dass nicht genügend Menschen sich impfen lassen, auch dann über die Frage von Impfpflicht diskutiert wird. Das wird der Deutsche Bundestag Anfang nächsten Jahres machen.
Das, was heute im Bundesrat, auch im Bundestag beschlossen ist, ist eine einrichtungsbezogene Impfpflicht für Pflegeheime, für Krankenhäuser und für Altenheime. Dass alle Menschen, die dort reingehen und arbeiten und zwar vom Pfleger bis hin zur Haushaltshilfe, die dort ist und Küchenhilfe, entsprechend geimpft sein müssen, damit es nicht zu solchen Ergebnissen, zu schaurigen Ergebnissen kommt, wie jetzt in anderen Bundesländern, wo teilweise ganze Altenheime durchinfiziert werden und möglicherweise sehr viele Menschen sinnlos sterben müssen, weil Menschen sich nicht geimpft haben, die trotzdem mit ihnen zusammenarbeiten.
Dieterle: Sind Sie für eine allgemeine Impfpflicht? Haben Sie sich da positioniert?
Wintermeyer: Also, ich bin für eine allgemeine Impfpflicht in jedem Falle. Wobei die Frage sehr genau anzugucken ist. Wir können nicht jeden impfen. Es gibt Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können. Und bei unter 18-Jährigen würde ich auch ein Fragezeichen an eine allgemeine Impfpflicht stellen. Das wäre anders als bei Masern. Da muss es gerade bei jungen Kindern gemacht werden. Aber bei Covid nicht.
Dieterle: Riskieren wir beide noch einen schnellen Blick ins neue Jahr. Was erwarten Sie da an der Corona-Front?
Wintermeyer: Also, wir haben jetzt beide keine Glaskugel vor uns stehen, sonst könnten wir beide einen anderen Job machen. Ich persönlich bin sehr sicher, dass wir noch einen relativ schweren Winter bekommen werden, auch durch die Omikron-Variante. Wir werden auch dann wieder einen Impf-Run kriegen im Frühjahr. Aber wenn möglichst viele Menschen sich impfen lassen, ob Impfpflicht ja oder nein will ich mal dahingestellt sein lassen, und sich an die Hygienevorgaben halten, die notwendig sind und nicht zu viel Leichtsinn haben, dann kann ich mir vorstellen, dass wir nächstes Jahr in eine sogenannte endemische Lage gehen, die eher wie eine schwere Grippewelle wird und nicht dann eine fünfte, sechste oder siebente Welle auf uns zurollt. Wir wollen jedenfalls alles dafür tun und ich hoffe, die Menschen machen mit.
Dieterle: Bis dahin bleiben sie erst mal angespannte Zeiten. Herr Wintermeyer, vielen Dank, dass Sie heute zum Interview bei mir waren.
Wintermeyer: Gerne, Frau Dieterle.