Hessische Landtagswahl 2023: Tarek Al-Wazir, Spitzenkandidat von Bündnis 90 / Die Grünen

Die hessischen Grünen wollen nicht mehr nur mitregieren, sie wollen das Amt des Ministerpräsidenten. Dazu ist ihr Spitzenkandidat bei uns um Studio.

Markus Appelmann, Moderator: Er ist seit Jahrzehnten in der hessischen Landespolitik, doch dieses Mal, bei dieser Landtagswahl könnte Tarek Al-Wazirs Parteibuch ihm zum Verhängnis werden. Herzlich willkommen zu 17:30 Sat.1 live zu einem Wahl-Spezial und herzlich willkommen heiße ich auch den grünen Spitzenkandidaten bei der hessischen Landtagswahl, Tarek Al-Wazir. Guten Abend.
Tarek Al-Wazir (Bündnis 90 / Die Grünen), Spitzenkandidat Landtagswahl Hessen: Guten Abend, Herr Appelmann.
Appelmann: Herr Al-Wazir, noch vier Tage sind es bis zur Landtagswahl. Sie eilen gerade von einem Wahlkampf termin zum nächsten und zu einem haben wir sie begleitet.
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Tarek Al-Wazir, 52 Jahre alt, aus Offenbach. Sein arabischer Familienname bedeutet übersetzt „der Minister“. Doch genau das will Tarek Al-Wazir nun nicht mehr sein, sondern „Head of Minister“ werden – der Ministerpräsident. Und dafür tingelt er durchs Land, von einer Wahlkampfveranstaltung zur nächsten. Im Wiesbadener Co-Working Space Heimathafen kommt er an diesem Tag mit Vertretern von Verbänden und Unternehmen ins Gespräch.
Tarek Al-Wazir (Bündnis 90 / Die Grünen), Spitzenkandidat Landtagswahl Hessen
„Alle meine Veranstaltungen mache ich so, dass die Bürgerinnen und Bürger Fragen stellen können. Weil das ist Demokratie. Dass man wirklich auf Augenhöhe miteinander diskutiert. Das man – auch vielleicht sozusagen, dass ich was lerne.“
Al-Wazir will hören, wo der Schuh drückt. Seit fast zehn Jahren ist er hessischer Wirtschafts- und Verkehrsminister. Ein erfahrener Politiker, der seine Kompromissbereitschaft in der schwarz-grünen Koalition unter Beweis gestellt hat. „Miteinander – nicht gegeneinander“, so sein Motto. Anders als bei der Ampelregierung im Bund.
Tarek Al-Wazir (Bündnis 90 / Die Grünen), Spitzenkandidat Landtagswahl Hessen
„So einen Zirkus, den hat’s mit mir nicht gegeben, den wird’s mit mir auch in Zukunft nicht geben. Und das wissen die Leute in Hessen ganz genau.“
Doch Al-Wazir muss kämpfen. Auch die Wahlkampfveranstaltung in Wiesbaden ist kein Selbstläufer.
Jens Mohrherr, Gewerkschaft der Polizei Hessen
„Wir haben zehn Jahre Schwarz-Grün hinter uns. Da ist einiges versprochen worden, nicht gehalten worden. Und ganz klar bei uns, bei der Polizei kommt das Personal immer noch zu kurz.“
Ilona Hakert, Mädchentreff Wiesbaden e.V.
„Manchmal hätte ich mir doch schon bisschen mehr Auftritt gewünscht gegenüber einer doch sehr behäbigen CDU.“
Stefan Füll, Handwerkskammer Wiesbaden
„Ja mit wählen wäre ich erst noch mal zurückhaltender. Aber es gibt natürlich Gründe um Grüne zu wählen. Also das Thema Klimaschutz – und da bin ich voll auf seiner Seite – da kommen wir nicht umhin, da muss dringend gehandelt werden.“
Und so tritt Al-Wazir mit dem Motto an: „Etwas verändern. Damit es bleibt, wie es ist.“
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Appelmann: Ja, “Etwas verändern. Damit es bleibt, wie es ist.” Wir sehen es ja auch hier auf Ihrem Wahlplakat. Hatten Sie in den letzten fast zehn Jahren zu wenig Möglichkeiten in der Regierung, etwas zu verändern? Oder wie dürfen wir diesen Wahlslogan verstehen?
Al-Wazir: Nein, das ist ein Hinweis darauf, wenn wir beispielsweise über den Klimaschutz reden, über die Frage, was wir verändern müssen, dass wir das nicht als Selbstzweck tun oder um irgendjemanden zu quälen, sondern dass wir das tun, damit wir weiter ein gutes Leben führen können. Es geht ja darum, in den nächsten Jahren Entscheidungen zu treffen, mutige Entscheidungen zu treffen für die Zukunftsfähigkeit dieser Gesellschaft und dabei aber eben auch die Leute auf dem Weg mitzunehmen. Wenn wir die Menschen auf dem Weg verlieren, dann haben wir in der Sache nichts gewonnen. Und ich finde, das zeigt dieses Plakat sehr eindrucksvoll und ich finde es auch ein sehr gelungenes Plakat, wenn ich das mal so sagen darf.
Appelmann: Das müssen Sie ja letztlich auch mit Ihrer Kampagne Wir haben es gerade eben gesehen bei dem Wahlkampftermin, da hat jemand gesagt: “Da ist nicht alles umgesetzt worden, was versprochen wurde.” Schmerzt Sie das, wenn Sie an den Koalitionsvertrag erinnert werden und da wird gesagt. “Na ja, da hätte man mehr machen müssen”?
Al-Wazir: Nein, denn wir haben ja den Koalitionsvertrag wirklich bis zum allerletzten Tag und zum allerletzten Punkt umgesetzt. Und der Kollege, der dort gesprochen hat, war der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei. Natürlich will eine Gewerkschaft immer mehr haben, sonst wäre sie eine schlechte Gewerkschaft. Und ich kann feststellen, wir haben in Hessen mehr Polizisten als jemals zuvor und auch so viele in Ausbildung wie nie zuvor. Da ist einer der Punkte, das haben wir schon gemeinsam gemacht in der Regierung …
Appelmann: Wo zu wenig passiert ist, ist zum Beispiel beim Wohnungsbau, da wollen wir später noch drauf kommen. Deswegen will ich es zumindest mal ganz kurz angesprochen haben.
Al-Wazir: Ja, ist klar. Nein, aber es ist natürlich klar: Wir haben große Probleme gehabt in den vergangenen Jahren in bestimmten Bereichen. Wir sind sie angegangen, wir haben gehandelt und wir haben vor allem, das ist ganz, ganz wichtig, das, was wir vorher gesagt haben, auch wirklich nach der Wahl gemacht. Und das unterscheidet uns – und das auch in guter Zusammenarbeit. Ist ja auch gezeigt worden. Ich will ausdrücklich sagen: Natürlich kämpft jeder für sich, jede Partei will für sich so stark werden, wie es irgend geht. Ich möchte für mich möglichst viele Stimmen haben, weil ich ja auch gesagt habe, dass ich vieles zur Chefsache machen will, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber am Ende müssen Demokratinnen und Demokraten miteinander regieren und nicht gegeneinander, sonst kann es nicht funktionieren.
Appelmann: Was das am Ende bedeutet, schauen wir uns natürlich in den Umfragen später noch mal an, aber jetzt mal Hand aufs Herz: Wie oft bekommen Sie böse Rückmeldungen zur Performance der Ampel in Berlin und zu dem, was Ihre grünen Kollegen da auf Bundesebene treiben?
Al-Wazir: Eher zur Regierung insgesamt – weniger, was die Grünen als Einzelpartei angeht, sondern eine Regierung kann nur insgesamt erfolgreich sein. Und natürlich ist klar, dass der Eindruck, den diese Regierung auf Bundesebene vermittelt, nicht hilft; nämlich dieser Eindruck immer gegeneinander zu sein, dass manche sich aufführen, als wären sie Opposition in der Regierung. Und immer dann, wenn die Leute das Gefühl haben, dass Politik nur um sich selbst kreist, dann werden sie grantig. Und deswegen habe ich immer gesagt: Die Sache muss im Vordergrund stehen und das Suchen nach gemeinsamen Lösungen und nicht das Zelebrieren von Meinungsverschiedenheiten auf offener Bühne.
Appelmann: Herr Al-Wazir, auf 85 Seiten erstreckt sich das Wahlprogramm der Grünen bei der hessischen Landtagswahl. Wir geben jetzt mal Gas und bringen das Ganze auf 120 Sekunden.
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Wirtschaft:
Die Grünen wollen bürokratische Prozesse vereinfachen und die Unternehmen beim Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaftsweise unterstützen. Für Fachkräfte aus dem Ausland soll eine zentrale Anlaufstelle sich um Aufenthaltsrecht, Integration und die Anerkennung von Abschlüssen kümmern.
Umwelt:
Bis 2030 soll es in Hessen 30 Prozent Ökolandbau geben. Die Grünen wollen außerdem das größte Waldentwicklungsprogramm des Landes auf den Weg bringen. Zwei Prozent der Landesfläche sollen sich völlig natürlich entwickeln können, also Wildnis sein. Ein Wassercent soll eingeführt werden um nachhaltige Projekte der Wasserversorgung zu finanzieren.
Bildung:
Die Grünen wollen Krippen, Kitas und Grundschulen stärker vernetzen. Sie setzen auf Bildung ab Null Jahren, um die Chancengleichheit zu verbessern. Jedes Jahr sollen 50 neue Ganztagsschulen entstehen. Für mehr Personal an Grund- und Förderschulen, sollen die Studienplätze ausgebaut werden.
Wohnungsbau:
Die Grünen wollen ein Förderprogramm für Wohnungsbau in Höhe von 2 Milliarden Euro auflegen. Sie wollen 10 Tausend Sozialwohnungen mit einer Sozialbindung von 50 Jahren schaffen. Die Umwandlung von Wohnraum zu anderen Zwecken soll genehmigungspflichtig werden.
Klimaschutz:
Um bis zum Jahr 2035 Klimaneutralität in Hessen zu erreichen, wollen die Grünen einen Klima- und Transformationsfonds in Höhe von mindestens 6 Milliarden Euro auflegen, unter anderen um Unternehmen und Kommunen bei Maßnahmen zum Klimaschutz zu unterstützen. Der Ausbau der Windkraft soll deutlich forciert werden. Durch öffentlichen Nahverkehr und Konzepte wie kommunales Car-Sharing soll der Autoverkehr bis 2030 um ein Drittel sinken.
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Appelmann: Fangen wir mal mit der Windkraft an. “Die Genehmigung von Windkraftanlagen dauert nirgends länger als in Hessen”, das war eine Schlagzeile aus dem letzten Jahr. Jetzt würde ich sagen, die Flaute liegt hinter uns und trotzdem ist in Sachen erneuerbare Energie zu wenig passiert, sagen Experten. An was liegt’s?
Al-Wazir: Es liegt daran, dass wir in Hessen besondere Bedingungen haben. Wir sind das waldreichste Bundesland, gemeinsam mit Rheinland-Pfalz, und es ist immer schwieriger, im Wald ein Windrad aufzustellen als 50 Meter hinterm Deich an der Küste. Aber wir haben da schon deutlich was verändert. Die Genehmigungszeiten sind inzwischen 15 Monate nach Vollständigkeit der Unterlagen. Das ist also mehr als doppelt so schnell wie vorher. Immer noch zu lange, aber es wird besser. In diesem Jahr, Stand gestern, sind wir bei 33 neuen Windrädern in Hessen. Das ist mehr als doppelt so viel als in den beiden Vorjahren zusammen.
Appelmann: Aber immer noch zu wenig, um die Ziele zu erreichen.
Al-Wazir: Aber immer noch zu wenig. Aber wir sehen jetzt, das geht nach oben und wir haben als eines von zwei Ländern ausreichend Vorrangflächen ausgewiesen. Schleswig Holstein und Hessen haben das Bundesziel schon erfüllt und deswegen wird das jetzt deutlich nach vorne gehen. Wir hatten ja das Problem, dass die Bundesregierung, die Vorgängerregierung, die erneuerbaren Energien eher ausgebremst hat. Und das hat sich deutlich verändert. Das wird man sehen. Das brauchen wir auch, weil wir haben ja in der Energiekrise gesehen, was passiert, wenn wir uns abhängig machen, von Russland in dem Fall.
Das heißt, wir müssen die Energiewende vorantreiben, erstens mal, um Wertschöpfung bei uns zu haben, um Arbeitsplätze bei uns zu haben, um Versorgungssicherheit bei uns zu haben und natürlich auch, um Energie langfristig bezahlbar zu halten. Weil die Preisexplosion, die wir jetzt ja gesehen haben, die liegt natürlich an der Energiekrise und die ist eine Krise von mangelndem Öl und Gas.
Appelmann: Lassen Sie uns gleich mal über diesen Energiepreis sprechen. Kernkraft wurde runtergefahren, Kohlekraft wurde hochgefahren und wir haben mit die höchsten Energiepreise der Welt momentan. Deswegen haben Unternehmen existenzielle Sorgen momentan. Wie kann diese Energiepreis wieder gesenkt werden?
Al-Wazir: Also mittelfristig führt am Ausbau der erneuerbaren Energien auch zur Senkung der Preise nicht vorbei. Kurzfristig haben wir ja reagiert – Stichwort Gaspreisbremse, Strompreisbremse – und wir diskutieren jetzt gerade zwischen Bund und Ländern über den sogenannten Brückenstrompreis für die international im Wettbewerb stehenden Unternehmen. Da wird es hoffentlich bei der Ministerpräsidentenkonferenz zwischen Bund und Ländern im November eine Einigung geben, weil ich schon sehe, dass manche Firmen,die wirklich verlagern können, im internationalen Wettbewerb sind, dass die große Probleme haben. Denken Sie an die BASF oder denken Sie an den Industriepark Hoechst. Da wird das sehr konkret. Aber langfristig muss man eben das Energiesystem der Zukunft bauen und nicht am Energiesystem der Vergangenheit festhalten. Im Übrigen, Biblis ist seit zwölf Jahren abgeschaltet, wird gerade abgerissen, wir suchen nach einer Deponie für den Schutt. Das ist wirklich Vergangenheit. Also müssen wir an der Zukunft bauen.
Appelmann: Noch mal Thema Klimaschutz. Das ist ja Thema Zukunft, tatsächlich. Sie wollen den Autoverkehr um ein Drittel senken. Und das in einem ländlich geprägten Bundesland. Das ist schon ein Wort. Sagen Sie doch mal den Bürgern, wer auf sein Auto verzichten soll.
Al-Wazir: Ich will Wahlfreiheit schaffen. Ich will, dass die Bürgerinnen und Bürger überall auf dem Land die Freiheit haben, sich auch für ein anderes Verkehrsmittel entscheiden zu können. Das ist keine Politik gegen das Auto, es ist eine Politik dafür, dass es auch Alternativen gibt. Und deswegen habe ich ja auch vorgeschlagen, die Vision “Jedes Dorf, jede Stunde”, damit man wirklich überall hin und weg kommt. Wir arbeiten daran, was die Alternativen angeht, was die Schienenwege angeht. Es gibt kein Land in Deutschland, wo so viel gebaut wird an neuen Schienen und so viele Projekte für neue Schienenverbindungen auf den Weg gebracht worden sind. Mir geht es darum, dass die Menschen die Wahlfreiheit haben, weil ich sicher bin, wenn es Alternativen gibt zum Stau, nämlich bequem und wirklich auch inzwischen zu bezahlbaren Preisen – wir haben in Hessen ja die Flatrate-Tickets erfunden, das Deutschlandticket ist jetzt Realität – auch wirklich Alternativen nutzen zu können. Dann werden die Menschen das gerne tun.
Appelmann: Da muss aber noch viel in Sachen öffentlicher Personennahverkehr passieren, halten wir einfach mal fest und kommen zum nächsten Thema Bauen ist Ihr Ressort. Der Wohnungsmarkt ist momentan am Boden. Der Branchenverband sagt: “Ein Patient auf der Intensivstation ist das.” Und deswegen schauen wir uns die Lage mal an.
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Es wird gebaut – aber viel zu wenig. Der Boom in der Baubranche – er ist definitiv vorbei. Steigende Baukosten, hohe Zinsen und immer mehr Auflagen. Das alles sorgt dafür, dass Investoren auf der Bremse stehen.
In Hessen ist die Zahl der Baugenehmigungen für Wohnungen im ersten Halbjahr 26,5 Prozent niedriger als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
Wir treffen Jörg Brömer auf einer seiner Baustellen in Wiesbaden – der Bauunternehmer kennt die Probleme, mit denen die Baubranche aktuell zu kämpfen hat, ganz genau. Denn Brömer ist auch stellvertretender Vorsitzender des Bau- und Immobilienausschusses der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände. Die Lage in der Baubranche beschreibt er als „sehr schwierig“.
Jörg Brömer, Bauunternehmer aus Wiesbaden
„Wir haben im Wohnungsbau einen Rückgang von über 40 Prozent. Wir kämpfen mit Auftragsstornierungen (…) Wir sehen, dass die Aufträge am Markt weniger werden und wenn wir uns mit Kollegen unterhalten, dann stellen wir fest, dass viele im November gegen eine Wand laufen. Sprich: Die bestehenden Aufträge sind im November abgearbeitet und es fehlen die Folgeaufträge.“
Wohnraum bleibt also Mangelware. Potentielle Mieter müssen in den hessischen Großstädten wohl weiter von einem Besichtigungstermin zum nächsten eilen – auf der Suche nach einer Wohnung, für die sie erstens den Zuschlag bekommen und die sie sich zweitens dann auch noch leisten können.
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Appelmann: In einer aktuellen Wohnungsmarktstudie wird klar, dass 63.000 Wohnungen in Hessen fehlen. Das können Sie nicht schönreden, oder?
Al-Wazir: Nein, das kann ich überhaupt nicht schönreden. Das ist ein großes Problem. Das Dach über dem Kopf ist ja so das Wichtigste neben der Gesundheit, was man überhaupt nur so haben kann. Und deswegen ist klar: Wir haben gerade im Ballungsraum, in den Hochschulstädten noch eine Menge zu tun. Gleichzeitig haben wir in den letzten Jahren in jedem Jahr in Hessen über 20.000 neue Wohnungen fertiggestellt. Und was wir gerade sehen, ist, dass wegen der abrupt steigenden Zinsen viele Finanzierungskonzepte sozusagen nicht mehr funktionieren. Und deswegen müssen wir alles dafür tun, diesen Wohnungsbau wieder in Schwung zu bringen.
Appelmann: Experten sagen, 30.000 bräuchte man pro Jahr, 20.000 haben sie gerade eben gesagt.
Al-Wazir: Aber es gibt doch durchaus Erfolge. Das Land Hessen ist das Land, was seit 2018 den höchsten Nettozuwachs an Sozialwohnungen hat. Also die Maßnahmen, die ich gestartet habe, die zeigen wirklich Wirkung. Überall anders sinkt die Zahl der Sozialwohnungen, bei uns in Hessen steigt sie wieder. Wir sehen das auch, dass wir steigende Anmeldungszahlen auch haben. Wir sehen, dass die Preise sich normalisieren, da war ja viel Spekulation auch im Markt, gerade was Grundstücke angeht. Und da kommt jetzt darauf an, dass wir wirklich in diesem Ballungsraum – ich habe ja das Projekt “Großer Frankfurter Bogen” gestartet, was entlang der Schienenstrecken auch zu sehen, wo können wir Flächen mobilisieren, die Kommunen dabei unterstützen, dass die Flächen auch ausgewiesen werden, wie können wir günstige Darlehen bieten, um am Ende wirklich das wieder in Gang zu bringen, bzw. in Gang zu halten.
Appelmann: Werden wir noch mal ganz konkret und lassen noch mal Jörg Brömer zu Wort kommen. Er hat nämlich ganz klare Forderungen an die hessische Landespolitik.

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Jörg Brömer, stellv. Vorsitzender Bau-und Immobilienausschuss VhU
„Das Land Hessen müsste mehr Bauland zur Verfügung stellen, die hessische Bauordnung müsste entschlackt werden und es müssten eventuell Förderprogramme für kostengünstiges Bauen aufgelegt werden.“
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Appelmann: Drei ganz konkrete Punkte, Herr Al-Wazir.
Al-Wazir: Ja, bei der Fläche hat er völlig recht. Nur – das können nur die Kommunen machen. Das Land macht keine Bebauungspläne, sondern das ist wirklich Aufgabe der Kommunen. Und ich unterstütze die Kommunen dabei, dass sie das tun. Das zweite ist die Frage der Bauordnung. Da haben wir schon in Hessen viel gemacht. Wir haben beispielsweise das serielle Bauen in Hessen möglich gemacht. Da ist es so, dass wir momentan diskutieren über die Frage: Das größte Problem sind eigentlich die Verträge auf privater Ebene, Stichwort; Was ist ein Baumangel?
Appelmann: Seriell heißt, dass in unterschiedlichen Kommunen gleiche Häuser gebaut werden.
Al-Wazir: Genau. Dass man die gleichen Häuser – und wenn die einmal genehmigt worden sind, da muss man da nicht neu hinschauen. Das sind wir auf dem Weg und ich glaube, dass alle Debatten über einen neuen Typ E wie “experimenttell” oder “einfach”, dass das in Zukunft kommen wird, weil wir sind über die Jahrzehnte, weil wir in Deutschland immer alles perfekt machen wollen, sind wir am Ende so perfekt geworden, dass es einfach alles unfassbar lange dauert. Und das gilt nicht nur beim Bauen, das gilt auch bei Schienenstrecken, das gilt selbst bei Radwegen. Da muss man ja alles prüfen als wenn man eine Autobahn bauen würde, und insofern müssen wir insgesamt schneller werden. Und was die günstigen Kredite angeht, da ist ja auf dem Baugipfel vorletzte Woche auch schon einiges auf den Weg gebracht worden auf Bundesebene. Auch wir haben dort Förderprogramme, und ich glaube, dass sowohl bei der Eigentumsbildung …
Appelmann: Da wurden aber auch die Klimaschutzstandards runtergeschraubt. Ist das der richtige Weg? Klimaschutzstandards runter für mehr Wohnraum?
Al-Wazir: Die wurden nicht runtergeschraubt. Es wird gesagt, dass sie nicht verschärft werden. Jetzt muss man aber auch sehen, wir haben ja jetzt ein beschlossenes Gebäudeenergiegesetz und alle Neubauten ab 1. Januar müssen klimaneutral beheizt werden. Und ob ich jetzt ein EH 55 oder ein EH 40 Haus klimaneutral heize, ist erst mal fürs Klima egal. Also der Teufel steckt da im Detail. Aber das ist sicherlich so einer der Punkte, dass wir das ganze wieder in Gang bringen, bzw in Gang halten.
Appelmann: Ein Grund, dass wir zu wenig Wohnraum haben, ist, dass auch immer mehr Flüchtlinge zu uns kommen. Was wollen Sie tun, damit künftig weniger Flüchtlinge zu uns kommen?
Al-Wazir: Ja, die Migration ist in Unordnung und wir müssen Ordnung da reinbringen. Wir haben aus meiner Sicht als Land alleine keine Möglichkeit, da Einfluss drauf zu nehmen, sondern das kann nur europäisch geschehen. Jetzt wird immer gesagt: “Das erzählen die schon seit Jahren …”
Appelmann: Und es passiert nichts.
Al-Wazir: Es ist schwierig, aber wir sind gerade auf europäischer Ebene so nah an einer Einigung wie noch nie zuvor. Und es geht darum, wirklich an den Außengrenzen diese Ordnung herzustellen, dass Menschen, die absehbar kein Bleiberecht bekommen, auch möglichst gar nicht erst …
Appelmann: Das wurde von den Grünen lange ausgebremst, das musste erst ein Machtwort des Kanzlers her.
Al-Wazir: Nein, nein, nein, das war die Krisenverordnung. Andere Baustelle.
Appelmann: Das ist die Asylverschärfung auf europäischer Ebene.
Al-Wazir: Nein, es geht wirklich darum, an den Außengrenzen dafür zu sorgen, dass Menschen, die absehbar kein Bleiberecht bekommen, möglichst gar nicht erst einreisen. Und ich bin da ausdrücklich dafür. Weil ich nämlich auch will – ausdrücklich, dass die Menschen, die wirklich vor Krieg und Verfolgung fliehen, dass wir die auch weiter schützen. Aber die müssen wir dann natürlich auch besser in Europa verteilen. Man muss einfach dazusagen, ein Teil der Problematik, die wir gerade haben, die liegt darin, dass wir Krieg in Europa haben, dass Putins Russland die Ukraine überfallen hat und wir alleine in Deutschland 1,1 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen haben. Das haben wir gerne getan, aber Frankreich beispielsweise hat kaum jemand. Und da sieht man sozusagen, wir müssen das europaweit lösen.
Appelmann: Herr Al-Wazir, hier jetzt wir weit weg, wir kommen wieder zurück ins Bundesland und da sind wir mit unserem Wahlmobil unterwegs und waren zum Beispiel im Kreis Bergstraße unterwegs. Und da kommt ein grüner Parteifreund von Ihnen zu Wort. Es ist Matthias Schimpf, der Beigeordnete im Kreis Bergstraße, da wo ganz viele Flüchtlinge in Containern untergebracht sind.
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Matthias Schimpf (Bündnis 90 / Die Grünen), Beigeordneter Kreis Bergstraße
„Das, was wir im Augenblick hier erleben, ist weder geregelt noch geordnet. Es droht ein Kontrollverlust. Das müssen die Grünen auch erkennen. Und ich hoffe, dass diese Diskussion offen und ehrlich geführt wird, weil Humanität kann auch nicht bedeuten, dass wir viele Menschen über einen langen Zeitraum haben und sie in ungeordneten Wohn- und Lebensverhältnissen bei uns verharren müssen.“

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Appelmann: Das sagt ein Grünenpolitiker. “Es droht ein Kontrollverlust.” Müssen die Grünen da umdenken?
Al-Wazir: Ja, ich habe ja aus genau diesem Grund auch gesagt, wir müssen da Ordnung reinbringen. Und ich kenne Matthias Schimpf schon sehr lange und sehr gut. Und ich weiß, dass er exemplarisch für diejenigen steht, die vor Ort versuchen, die mit der Situation irgendwie umzugehen. Und die Kommunen sind natürlich an der Grenze der Belastbarkeit, teilweise schon darüber hinaus. Und genau deswegen ist es ja so wichtig, dass wir da endlich zu Lösungen kommen. Und noch mal: Ich weiß, dass auch am heutigen Tag auf europäischer Ebene über die Frage natürlich nicht nur diskutiert wurde, sondern auch entschieden werden wird, dass wir zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem kommen. Und darauf haben wir jahrelang gewartet. Und jetzt kommt’s.
Appelmann: Wir halten fest: Sie bleiben da optimistisch. Und wir kommen jetzt zur aktuellen Umfrage zur Landtagswahl in Hessen.
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In einer aktuellen Umfrage zur Landtagswahl in Hessen kommt die CDU auf 31 Prozent. SPD, Grüne und AfD erreichen 16 Prozent. FDP und Freie Wähler kommen auf 5 Prozent. Die Linke verpasst nach dieser Umfrage mit 4 Prozent den Sprung in den hessischen Landtag.
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Appelmann: 16 %. Herr Al-Wazir, fahren Sie manchmal an den Plakaten vorbei, wo steht “Ihr Ministerpräsident Tarek Al-Wazir” und sagen: “Momentan ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt für einen grünen Ministerpräsidenten.”?
Al-Wazir: Nein, das tue ich nicht. Und ich habe diese Umfrage auch heute Morgen wahrgenommen. Jetzt will ich jetzt niemandem zu nahe treten, aber Insa ist … na ja ..
Appelmann: Aber bei der letzten 17 %. Das ist jetzt ein Prozentpunkt mehr.
Al-Wazir: Manche sagen 16, manche sagen 17, manche sagen 18 und am Ende entscheiden es ja die Hessen und Hessen. Und das ist ja das Tolle, dass die Bürgerinnen und Bürger am Sonntag wirklich die Wahl haben, frei, allgemein, gleich, geheim ihre Volksvertretung zu wählen. Die entscheiden das und danach werde ich mit dem Ergebnis umgehen müssen. So wie alle anderen auch. Demokratinnen und Demokraten akzeptieren das dann und machen das Beste daraus, in dem sie miteinander sprechen und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger versuchen, das Bestmögliche daraus zu machen.
Appelmann: Die Grünen sind ja einst als antistaatliche Partei gestartet. Jetzt sehen sie den Staat als Hauptakteur, um zum Beispiel die Klimaschutzziele durchzusetzen. Überall wird reguliert und vorgeschrieben. Ist das irgendwie ein Grund dafür, dass dieser Zuspruch momentan auf 16 % ist?
Al-Wazir: Nein. Also wer mich kennt, weiß, dass ich schon vor zehn Jahren – Stichwort: Green and Sustainable Finance Cluster – gearbeitet habe, wo ich einfach sicher bin, dass wir für eine Veränderung, was Klima und Transformation angeht, privates Kapital brauchen. Ich glaube nicht daran, dass der Staat alles lösen kann, da würde er sich überfordern, sondern wir müssen das klug …
Appelmann: Aber es ist das schlechteste Ergebnis seit der Landtagswahl.
Al-Wazir: Warten wir es doch mal ab. Also ich habe schon so viele Wahlabende erlebt, wo am Ende die Leute eher überrascht waren. Manche haben gedacht, ihre Bäume wachsen in den Himmel und nachher haben sie gemerkt, ist nicht. Bei anderen war es andersherum. Und insofern lassen wir uns doch mal überraschen. Ich bin da sehr zuversichtlich, weil ich auch genau weiß, was die Hessinnen und Hessen auch an der Arbeit der hessischen Grünen schätzen und auch gerade an mir schätzen. Und ich glaube, das wird sich am Wahlabend auch zeigen.
Appelmann: Sie haben sich die Umfrage genau angeschaut. Das bedeutet doch aber, wenn wir mal zusammenrechnen, für eine Ampel reicht es nicht – eigentlich ein “weiter so”. Sie müssten für Schwarz-Grün kämpfen. Ich kämpfe für die Grünen und für mich, nicht für irgendeine Koalition.
Appelmann: Aber Sie müssen doch dem Grünenwähler ja sagen, was er am Ende bekommt.
Al-Wazir: Den Grünenwählerinnen und -wählern kann ich sagen: Wer Grün wählt, kriegt am Ende grüne Politik und zwar egal in welcher Konstellation. Dass wir alles dafür tun. Und natürlich: Je stärker wir werden, um so eher, dass das, was ich mir vorgenommen habe – 20.000 Kitaplätze, mehr, mehr Wohnungsbau, Klima- und Transformationsfonds – das, was Sie auch angesprochen haben, dass das auch in der nächsten Legislaturperiode Realität wird. So habe ich immer gearbeitet. Sachlich, Schritt für Schritt, aber nach vorne.
Appelmann: Okay, das war das letzte Wort heute in unserem Wahl-Interview. Danke schön an Tarek Al-Wazir, den Spitzenkandidat der Grünen heute bei uns im Studio.
Al-Wazir: Vielen Dank.
Appelmann: Und unsere Wahl-Spezial-Sendungen gehen weiter. Morgen mit Bundesinnenminister Nancy Faser, der SPD-Spitzenkandidatin für die hessische Landtagswahl. Ihnen vielen Dank für Ihr Interesse und einen schönen Feierabend.