DGB-Chefin Susanne Wingertszahn zu Gast im Studio

Ein Negativrekord: Knapp jeder fünfte junge Mensch in Deutschland hat keinen Berufsabschluss. Und gleichzeitig brauchen wir mehr Fachkräfte – mehr Dachdecker, mehr Friseure, mehr Bäcker. Wie passt das zusammen? Markus Appelmann spricht mit Susanne Wingertszahn vom Deutschen Gewerkschaftsbund über die knapp 3 Millionen jungen Menschen ohne Berufsabschluss. Vorher schauen wir nach Koblenz.

Letzte Handgriffe bevor der Auftrag erledigt ist. Schon jetzt wissen die Auszubildenden Finn und Masud genau, was sie machen müssen. Ihr Weg hierher war aber völlig unterschiedlich: Masud ist Physiklehrer und im Jahr 2020 von Syrien nach Deutschland geflüchtet. Mit einer Ausbildung als Elektroniker in der Energie- und Gebäudetechnik will er sich in Koblenz ein neues Leben aufbauen.
Masud Hibo, Auszubildender
„Wenn ich hier als Physiklehrer arbeite, glaube ich, brauche ich ein sehr hohes Deutschlevel. Deshalb dachte ich, das ist ein kurzer Weg, wenn ich eine Ausbildung mache und dann gleichzeitig meine Sprache verbessere und einen Beruf lerne.“
Finn ist im Raum Koblenz aufgewachsen. Er macht während seiner Ausbildung noch eine Fachhochschulreife, um sich alle Wege offen zu halten.
Finn Gotthardt, Auszubildender
„Ich habe dann von meinem Vater gesagt bekommen: ‚Mach eine Ausbildung, das lohnt sich.‘ Auch wenn ich nach der Ausbildung noch studieren gehe, habe ich drei Jahre schon was gemacht. Habe ich was vorzuweisen.“
Sie sind zwei von 19 Auszubildenden bei der Firma Elektro Pretz in Koblenz. Seit Jahrzehnten bildet das Unternehmen aus. Doch die Zahl der Bewerbungen ist deutlich gesunken. Noch mehr Sorgen macht sich Geschäftsführer Rainer Lamberti, dass die Qualität der Bewerber mehr und mehr nachlässt.
Rainer Lamberti, Geschäftsführer „Elektro Pretz“
„Nur eine geringe Anzahl sind geeignet. Für die anderen, die, sage ich mal, von dem Schulischen nicht so gut sind, von den Noten, da müssen wir uns intensiv drum kümmern, damit sie auch nachher den Abschluss schaffen. Und gerade unser Berufszweig, das ist der schwerste Ausbildungsberuf im Elektrohandwerk, und da ist viel gefragt Mathematik und Physik.“
Eine Beobachtung, die auch Ralf Hellrich von der Handwerkskammer Koblenz macht. Doch bei 3.000 unbesetzten Lehrstellen in Rheinland-Pfalz ruft er dazu auf, auch Bewerbern mit schlechten Schulnoten eine Chance zu geben.
Ralf Hellrich, Hauptgeschäftsführer Handwerkskammer Koblenz
„Selbst wenn schulische Leistungen nicht der Höhepunkt der Karriere waren, kann man tatsächlich über diese im sozialen System eines Betriebes befindlichen Möglichkeiten versuchen, etwas zu erreichen, was man vorher von sich gar nicht gedacht hatte, erreichen zu können. Also die jungen Menschen lernen rechnen, wenn sie wissen, dass sie für die Ziegeleindeckung eines Hauses eben eine gewisse Anzahl an Ziegeln ausrechnen müssen. Und dann macht Mathematik auch plötzlich wieder Sinn.“
Fakt ist, es gibt genügend freie Lehrstellen und dennoch steigt die Zahl der jungen Menschen ohne Berufsabschluss seit vielen Jahren.
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Markus Appelmann, Moderator:
Das ist alarmierend: Knapp 3 Millionen junge Menschen in Deutschland haben keinen Berufsabschluss. Darüber wollen wir sprechen mit Susanne Wingertszahn. Sie ist die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Rheinland Pfalz / Saarland. Guten Abend.
Susanne Wingertszahn, Vorsitzende DGB Rheinland-Pfalz / Saarland :
Schönen guten Abend.
Appelmann:
Haben Sie denn auch aktuelle Zahlen aus Rheinland Pfalz, wie viele junge Menschen da keinen Berufsabschluss haben?
Wingertszahn:
Ja, das sind leider mittlerweile 142.000 junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben, und die sind ein großes Potenzial auf der Suche nach Fachkräften auf der einen Seite und auf der anderen Seite müssen diese jungen Menschen eine Berufsausbildung haben, damit sie später auch einen guten Job haben und dann auch später hoffentlich eine gute Rente.
Appelmann:
Seit Jahren lädt die Landesregierung ein zum “Ovalen Tisch Ausbildung”. Gestern war es auch so. Sie waren mit am Tisch. Warum steigt diese Zahl trotzdem? Warum haben wir da keine Trendwende in diesem Bereich?
Wingertszahn:
Beim Thema Ausbildung ist es leider so, dass nur noch 20 % aller Betriebe überhaupt ausbilden. Das heißt, wir haben einen großen Teil noch an Betrieben, die auch noch ausbilden können, diese jungen Menschen erreichen könnten. Das ist ein großer Grund. Und wir müssen alles dafür tun, dass die duale Ausbildung und die Berufsausbildung wieder attraktiv wird. So wie sie das vielleicht mal vor 20, 30 Jahren war.
Appelmann:
Was muss passieren, damit die attraktiv ist? Bringen wir es doch mal auf den Punkt.
Wingertszahn:
Unbedingt in die Qualität der Ausbildung investieren. Wir befragen jedes Jahr Auszubildende in Rheinland-Pfalz, wie sie sich ihre Ausbildung vorstellen, wie sie sie bewerten. Und ganz viele sagen, sie wünschen sich mehr Investitionen in die Ausbildung, vor allem in die digitale Kompetenz von Ausbilderinnen und Ausbildern, in die Materialien, mit denen sie arbeiten, dass das alles modern ist, gut ist, so was wie eine Ausbildung 4.0. Da muss investiert werden.
Appelmann:
Also mehr Digitalität muss da auch mit dabei sein. Die Transformation der Ausbildung sozusagen. Es gibt genügend offene Ausbildungsstellen. Wie bringen wir jetzt Unternehmen auf der einen Seite und die angehenden Azubis zusammen?
Wingertszahn:
Ich wünsche mir sehr, dass es ein Umdenken gibt, dass auch Unternehmen und Betriebe nicht nur auf die Bestenauslese machen, auf die mit einem Einser-Abschluss schauen, sondern vor allem auch die jungen Menschen sich anschauen und mit in den Blick nehmen, die vielleicht schlechtere Startchancen haben, die vielleicht ein schlechteres Zeugnis haben, dass sie auch begreifen, da gibt es eine große Anzahl an junger Menschen und die sind Potenzial für eine Ausbildung. Weil es gilt: Es ist eine Ausbildung. Man kann nicht erwarten, dass jemand ab dem ersten Tag schon voll arbeitsfähig ist und alles weiß, sondern dafür ist ja auch eine Ausbildung da, um in diesem Prozess was zu lernen.
Appelmann:
Jetzt haben wir gerade eben gehört, die Auszubildenden werden schlechter, die Bewerbungen werden schlechter. Warum ist es denn so?
Wingertszahn:
Da kann man sich drüber streiten. Dass Auszubildende oder junge Menschen immer schlechter werden, das heißt es schon vor 3.000 Jahren in so einer Steintafel von Sokrates. Das muss man sich genau angucken. Es gibt auch Kompetenzen, die junge Menschen jetzt besser können, die Problemlösungskompetenz haben. Und wichtig ist immer: Dafür ist eine Ausbildung da. Und wenn jemand schlechter einsteigt, dann gibt es auch ganz viele Hilfen wie assistierte Ausbildung oder weitere Programme.
Appelmann:
Aber kennen dass die angehenden Azubis überhaupt, diese Programme?
Wingertszahn:
Ich wünsche mir mehr, dass die Betriebe das auch kennen, dass die Betriebe wissen und auch diese Programme nutzen, dass sie Unterstützung bekommen auf dem Weg auszubilden. Das heißt, wenn ein Jugendlicher schlecht ist, dann gibt es Begleitung, sozialpädagogische Begleitung, sogenannte assistierte Ausbildung, so heißt das. Da gibt es ganz viele Programme und das wünsche ich mir sehr, dass die Betriebe das kennen.
Appelmann:
Okay, was muss jetzt ganz schnell passieren, damit wir nicht nächstes Jahr schon wieder da stehen und die Zahl der jungen Menschen ohne Berufsabschluss über die 3 Millionen geht, dass wir die Trendwende schaffen?
Wingertszahn:
Ganz wichtig muss passieren, dass genau diese jungen Menschen ins Blickfeld rücken und dass Betriebe und Unternehmen auch einen Fokus legen auf junge Menschen, die vielleicht keine so gute Startchancen haben. Und wir brauchen deshalb unterm Strich gute Ausbildung, damit auch die Ausbildung, die Attraktivität der Ausbildung noch mal gesteigert wird. Deshalb muss man alles tun, dass Ausbildung gut ist, dass sie gut bezahlt wird, dass es gute Ausbildungsbedingungen gibt. Gute Ausbildung ist die beste Werbung für mehr Ausbildung.
Appelmann:
… sagt Susanne Wingertszahn vom Deutschen Gewerkschaftsbund Rheinland-Pfalz / Saarland. Danke Ihnen.

Wingertszahn:
Danke Ihnen.