Das SAT.1-Sommerinterview mit Boris Rhein (CDU)

Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein stellt sich auf unserer Dachterrasse den Fragen von Eva Dieterle.

Eva Dieterle, Moderatorin: Auch an diesem Freitag haben wir ein weiteres Sommerinterview für Sie. Heute mit einem Gast, der noch nie bei mir hier auf der Dachterrasse zum Sommerinterview war. Es ist der frischgebackene hessische Ministerpräsident Boris Rhein. Herzlich willkommen!
Boris Rhein, CDU, Ministerpräsident Hessen: Ja, guten Tag, Frau Dieterle.
Dieterle: Herr Ministerpräsident, bevor wir gleich mit dem Interview loslegen, schauen wir mal auf das, was viele sagen, nämlich, dass in Hessen mit Ihnen eine neue Ära beginnt. Und das tun wir jetzt in Form eines kurzen Portraits.
Am 31. Mai 2022 um 13 Uhr 58 ist Boris Rhein am Ziel. Der hessische Landtag wählt ihn als Nachfolger von Volker Bouffier zum Ministerpräsidenten – und das sogar mit fünf Stimmen mehr als die Koalition Abgeordnete hat. Damit wechselt der 50jährige Frankfurter vom überparteilichen und repräsentativen Amt des Landtagspräsidenten mitten ins Zentrum der politischen Auseinandersetzung: Als Chef einer schwarz-grünen Koalition, die sich in etwa 15 Monaten dem Votum der Bürger stellen muss. Die Kritik, seine Amtsübernahme sei kein Neustart, sondern ein ambitionsloses „Weiter so“, kommt schnell. Die Opposition schießt sich schon auf den Wahlkampf ein. Und Boris Rhein hat nicht allzu viel Zeit, um dem Amt seinen Stempel aufzudrücken.
Dieterle: Herr Rhein, wann haben Sie von Volker Bouffier erfahren, dass Sie hessischer Ministerpräsident werden sollen?
Rhein: Na ja, man erfährt das ja nicht so, sondern es ist ein längerer Prozess gewesen, den Volker Bouffier initiiert hat – übrigens, glaube ich, einmalig, wie er das gemacht hat, und das Ergebnis zeigt ja auch, das es gut gewesen so ist. Er hat mit allen gesprochen, die infrage kommen, hat natürlich auch weite Parteikreise dann dabei eingebunden, und ich würde sagen, der Prozess hat so im Januar begonnen und am Ende, wie gesagt, das ist schon … Es hat schon ziemliche Größe bewiesen, wie Volker Bouffier diesen Übergang gestaltet hat.
Dieterle: Und wann hat er die Frage gestellt? Irgendwann muss ja diese Frage mal gefallen sein.
Rhein: Also nach meiner Erinnerung muss das so Mitte Februar gewesen sein.
Dieterle: In persönlichen Gespräch.
Rhein Im persönlichen Gespräche hat Volker Bouffier erörtert, ob es einen solchen Übergang geben könnte, und wir haben dann die Einzelheiten besprochen.
Dieterle: Der stellvertretende Ministerpräsident heißt weiterhin Tarek Al-Wazir. Wie funktioniert das denn, wenn er Ihr Stellvertreter ist, aber gleichzeitig ja Ihren Job haben möchte?
Rhein: Ja, das ist ja ein ganz normaler demokratischer Vorgang. Also, jeder möchte natürlich eine Regierung anführen. Man tritt ja nicht an, um den zweiten Platz zu machen. Und darüber hinaus ist unser Verhältnis so gut, ist unser Verhältnis auch so vertrauensvoll, auch im Persönlichen funktioniert das zwischen Tarek Al-Wazir und mir so gut, dass das überhaupt gar kein Problem darstellt. Auch da haben wir eine wirklich ordentliche Professionalität.
Dieterle: Kann man also wirklich Gegner und Partner gleichzeitig sein?
Rhein: Ja, das ist ja in der Politik so. Sie sind ja immer irgendwie Wettbewerber. Und insoweit – das funktioniert und das hat ja auch bei der letzten Wahl funktioniert. Die Grünen sind eine verhältnismäßig starke Partei geworden und deswegen sind sie ein ambitionierter Wettbewerber mit uns.
Dieterle: Ist er Ihr größter Konkurrent oder ist das dann doch Nancy Faeser, die ja aller Voraussicht nach für die SPD ins Rennen gehen wird?
Rhein: Also, das wissen wir ja noch nicht. Die SPD ist ja ziemlich unsortiert. Die SPD weiß, glaube ich, nicht, was ihre Themen sind. Die SPD weiß noch nicht mal, wer ihr Kandidat ist. Da wissen wir gar nix, es kann ja auch noch jemand anderes werden. Ich glaube, auch Frau Faeser hat sich selbst noch gar nicht entschieden, was sie macht. Das geht natürlich nicht, weil man muss schon in Hessen sein und man muss auch unterwegs sein in Hessen, um dieses Land regieren zu können. Aber das muss die SPD für sich entscheiden. Ich nehme alle Kandidaten und alle Mitbewerber sehr ernst. Das gilt für Tarek Al-Wazir, für Nancy Felser oder eben andere. Ich glaube, da darf man nicht überheblich sein, sondern muss sehr demütig mit der Situation umgehen. Es sind alles ernstzunehmende Kandidaten, die da im Rennen sind.
Rhein: Kurz nach Ihrer Wahl sind Sie direkt mit einem Skandal konfrontiert. Worden mit einem Skandal um antisemitische Darstellungen bei der weltweit wichtigsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, bei der documenta in Kassel. Können Sie sich erklären, dass so was in diesen Zeiten, wo wir alle doch eigentlich hochsensibilisiert für genau diese Themen sein sollten, passieren kann?
Rhein: Also, der Schaden für die documenta ist immens. Das bedauere ich sehr, weil ich ein großer documenta-Fan bin und auch als Wissenschaftsminister mich sehr intensiv um die documenta gekümmert habe. Aber der Schaden, der darüber hinausgeht, ist natürlich mindestens genauso immens. Und Antisemitismus ist vollständig inakzeptabel.
Dieterle: Aber deshalb die Frage: Wie kann das passieren?
Rhein: Ja, wie kann das passieren? Das hat mit den Strukturen der documenta zu tun. Die werden wir jetzt überprüfen. Der Aufsichtsrat wird entsprechende Maßnahmen ergreifen, wird entsprechende Maßnahmen besprechen. Und dann müssen wir darüber diskutieren, ob wir beispielsweise auch die Gesellschafterstruktur der documenta verändern, ob wir möglicherweise auch Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten in der documenta verändern Das Konstrukt der documenta ist sehr komplex und das ist aus meiner Sicht ein bisschen auch eine Erklärung dafür, wie es dazu kommen konnte, und das ist inakzeptabel, das müssen wir beenden.
Dieterle: Beim Thema Verantwortlichkeit möchte ich einhaken. Wie kann es sein, dass sich keiner dafür verantwortlich fühlt? Es findet jetzt so eine Schuldzuweisung statt, es hat keinerlei personelle Konsequenzen gegeben.
Rhein: Na ja, jetzt muss man erst mal schauen: Was ist eigentlich der Sachverhalt? Was ist das gesellschaftsrechtliche Problem im Zusammenhang mit dem Verhalten von einzelnen Verantwortlichen vor Ort oder das arbeitsrechtliche Problem? Wie kann man da rangehen? Es ist auch eine juristische Frage. Wir können nicht einfach jemanden entlassen, sondern das muss dann schon eine Grundlage haben und er muss dann am Ende auch die Verantwortlichkeit festgestellt werden. Ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist: Wie gesagt, es hat mit komplexen Strukturen der documenta zu tun. Es wird erst eine Findungskommission gefunden, dann findet diese Findungskommission ein Kuratorenteam oder einen Kurator. Dann haben wir eine Geschäftsführung, in dem Fall eine Generaldirektorin. Da verteilen sich dann Zuständigkeiten schon sehr stark. Und deswegen ist es so schwierig zu sagen, wer ist für was verantwortlich. Das darf nicht mehr passieren, die müssen wir ändern, die Struktur.
Dieterle: Es hat von der Oppositionspartei FDP und auch von der AfD schwere Vorwürfe gegeben, auch gegen die Verantwortliche in ihrem Kabinett, Wissenschaftsministerin Angela Dorn. Die will jetzt ein Expertengremium einführen, reicht das?
Rhein: Ich unterstütze Frau Dorn sehr bei diesem Unterfangen. Ich habe keine Kritik an Frau Dorn zu üben, ganz im Gegenteil, sie nimmt sich der Dinge an. Wichtig ist, dass hier die Stadt Kassel und das Land Hessen Hand in Hand die Dinge stemmen. Nur dann kann das erfolgreich sein. Da nützt es nichts, wenn man gegeneinander arbeitet oder wenn man übereinander redet, sondern das muss miteinander geschehen. Und weil Sie das erwähnt haben, die AfD kritisiert die Dinge. Das hat mich doch, ich will mal sagen, unangenehm berührt, die Positionierung der AfD, weil die AfD sich auf einen Zug setzt als eine wirklich rechte, äußerst rechte Partei und hier ein Thema besetzen will. Ich halte das für sehr problematisch.
Dieterle: Die AfD kritisiert es nicht nur, sie fordert den Rücktritt von Frau Dorn.
Rhein: Ja, das ist natürlich großer Unsinn. Wo soll denn das Versagen von Frau Dorn liegen? Frau Dorn nimmt sich der Dinge an, wie gesagt, Frau Dorn führt das Verfahren und das Hand in Hand mit dem Oberbürgermeister in Kassel. So muss das sein.
Dieterle: Wir lassen das an dieser Stelle so stehen, denn wir kommen auf ein weiteres Thema zu sprechen, das natürlich auch die Menschen in ihrem Land bewegt, und das ist der Krieg, den Russland seit Monaten gegen die Ukraine führt. Denn der hat auch auf uns hier in Hessen Auswirkungen.
Der 24. Februar 2022 – ein trauriger Tag für Europa. Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine endet in Deutschland die Hoffnung, in Russland Wandel durch Handel erreichen zu können.
Die Grundfeste jahrzehntelanger Außenpolitik sind erschüttert. Gleichzeitig bekommen die Deutschen aktuell schmerzhaft zu spüren, wie abhängig wir von russischem Gas sind.
Sanktionen und Gegen-Sanktionen haben bereits zu einer schlechteren Energieversorgung und massiven Preissteigerungen geführt. Den Krieg haben sie nicht beendet.
Und so wird die Kritik lauter, die Sanktionen würden nicht greifen. Im Gegenteil – sie würden uns mehr schaden als Russland.
Denn schneller Ersatz für das russische Gas ist nicht in Sicht. Der Ausbau der erneuerbaren Energien geht nicht schnell genug voran, um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Und dass die im Bund mitregierenden Grünen zustimmen, die drei verbleibenden deutschen Atomkraftwerke länger als geplant am Netz zu lassen, gilt als äußert unwahrscheinlich.
Dieterle: Herr Rhein, dieser Krieg hat die Gewissheit zerstört, dass enge Wirtschaftsbeziehungen einen Krieg verhindern können. Waren wir da alle zu naiv?
Rhein: Ich glaube … ob wir zu naiv waren, kann ich nicht beantworten. Ich glaube, wir haben uns zu sehr einseitig abhängig gemacht und das werden wir in der Zukunft auch mit anderen autoritären Staaten überprüfen müssen. Deswegen werden wir unsere Außenwirtschaftsbeziehungen extrem überprüfen müssen. Ich plädiere sehr dafür, dass wir die eine oder andere Abhängigkeit eben beenden. Das bedeutet, wir müssen erneuerbare Energien ausbauen, das bedeutet, wir müssen beispielsweise auch an der Energieeffizienz stark arbeiten, und das wird jetzt nicht sofort alles dann dazu führen, dass die Dinge sich ändern, aber wir müssen unsere insgesamten Strategien überprüfen.
Dieterle: Sie haben gerade gesagt, wir haben uns zu sehr abhängig gemacht. Das möchte ich gerne konkretisieren. Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat unsere Abhängigkeit von Russland und China vergrößert, Infrastruktur und Bundeswehr vernachlässigt, den Energiemix aufgegeben. Verstehen Sie, dass einige Menschen jetzt denken: Wir müssen ausbaden, was Angela Merkel uns mit ihrer Politik eingebrockt hat?
Rhein: Nein, das kann man ja nicht alleine auf Angela Merkel fokussieren. Das ist ja ein gesamtdeutsches Problem gewesen und jede Partei war in irgendeiner Art und Weise an Regierungen beteiligt. Das trifft vor allem auf die SPD zu. Das trifft aber natürlich auch auf die FDP zu und es trifft auch auf die Grünen zu …
Dieterle: Und es trifft auch auf die Union zu.
Rhein: Natürlich, Angela Merkel Bundeskanzlerin Merkel gehört ja der der Union an. Deswegen habe ich das jetzt nicht explizit erwähnt. Aber es trifft auch auf die Grünen zu, die ja über Landesregierungen beteiligt waren. Also ich finde, man sollte da kein Schwarzer-Peter-Spiel spielen und man sollte auch nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Jetzt geht es auch nicht um Vergangenheitsbewältigung, sondern jetzt geht es darum, wie wir es in Zukunft besser machen können.
Rhein: In Deutschland wird gerade diskutiert, ob die Sanktionen gegen Russland nicht unwirksam seien und vor allen Dingen unsere eigene Wirtschaft zu stark schwächten. So sieht das unter anderem Volkswirt Folker Hellmeyer, der frühere Chef-Analyst der Landesbank Hessen-Thüringen. Wir hören mal kurz rein.
Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt Netfonds Financial Service
Ich halte Moral für sehr wichtig und ich bin auch absolut emotional bei der Ukraine. Aber womit ist der Ukraine genutzt? Wenn die Europäische Union wirtschaftlich förmlich nicht mehr leistungsfähig ist, die Ukraine auch zukünftig zu unterstützen?
Dieterle: Herr Rhein, sehen Sie das genauso?
Rhein: Also ich muss sagen, mir gefällt eine solche Stellungnahme überhaupt gar nicht. Ich kann das nicht leiden, wenn jemand sagt „Ich stehe ja zu Ukraine“ und dann kommt das große „Aber“. Ich will in aller Deutlichkeit mal sagen: Es geht um in allererster Linie nicht um Mängellagen hier in Deutschland. Es geht in allererster Linie bei all dem, was derzeit an furchtbarem Krieg in der Ukraine geschieht, um Frieden und Freiheit in Europa, also auch für uns. Es geht jetzt nicht um Erdgas oder um Mängellagenoder um steigende Kosten. Es geht um Frieden und Freiheit. Es ist eine existenzielle Frage.
Dieterle: Wenn wir aber natürlich hier unsere Wirtschaft so sehr schädigen durch diese Sanktionen, dass wir der Ukraine nicht mehr helfen können, dann sind wir nicht handlungsfähig.
Rhein: Ich komme noch darauf zu sprechen. Und deswegen habe ich einen Riesenrespekt vor den Soldatinnen und Soldaten in der Ukraine und den Menschen in der Ukraine, weil die nicht nur ihre Freiheit verteidigen, sondern sie verteidigen gerade auch unsere Freiheit. Und deswegen ist es im warmen Wohnzimmer sehr einfach zu sagen: „Ich stehe zur Ukraine, aber …“. Das „Aber“ werden wir in der Politik zu bewältigen haben. Und da muss ich sagen, ist die Enttäuschung über die Konfusion in der Bundesregierung groß, nicht nur bei den Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch bei uns in den Ländern. Der Bund ist für die Energiepolitik zuständig, und ich sehe überhaupt kein Konzept in der Bundesregierung. Das muss sich schnell ändern, sonst kriegen wir große Probleme. Ich sage aber jetzt auch ein „Aber“. Aber mir missfällt auch, mit welchem Alarmismus die Bundesregierung vorgeht. Es nutzt doch jetzt nichts, eine riesige Krisenstimmung zu verbreiten, sondern jetzt muss man mit Besonnenheit an die Dinge herangehen und Konzepte erarbeiten, wie es zu laufen hat.
Dieterle: Eben wollten Sie das Schwarze-Peter-Spiel nämlich nicht betreiben. Noch mal: Wenn die Wirtschaftsunternehmen hier zusammenbrechen, weil einfach das Gas fehlt, dann ist der Preis für diese Sanktionen doch zu hoch.
Rhein: Also die Wirtschaftsunternehmen werden nicht zusammenbrechen, weil das Gas fehlt. Wir werden selbstverständlich unsere Wirtschaft am Laufen halten können. Es muss jetzt niemand denken, dass das Ende der Welt oder das Ende der deutschen Wirtschaft naht. Die deutsche Wirtschaft ist stark und wir werden natürlich auch in unseren Notfallplänen, wenn denn der Notfall eintritt, dafür sorgen, dass die Wirtschaft am Laufen bleibt.
Dieterle: Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass, wenn der Winter kommt und wenn viele Menschen frieren werden, weil einfach dann kein Gas zum Heizen mehr da ist, dass dann die Stimmung kippt, dass dann die Solidarität für die Ukraine schwindet?
Rhein: Die Gefahr besteht in der Tat. Aber deswegen habe ich das am Anfang auch so deutlich gesagt. Ich will nicht, dass … Wissen Sie, ich will nicht diesen Gegensatz aufmachen zwischen „warmem Wohnzimmer“ und „Frieden und Freiheit“. Aber das ist auch ein Wert an sich, in einem Land zu leben, in dem es Frieden gibt. In einem Land zu leben, in dem es Freiheit gibt. Und der Schritt, den der Aggressor Putin gegangen ist, der endet ja nicht in der Ukraine, wenn wir ihn da nicht stoppen. Und deswegen ist es alternativlos, was wir derzeit tun. Die Sanktionen sind alternativlos, aber vor allem sind Waffenlieferungen alternativlos. Und auch da handelt diese Bundesregierung nicht genügend. Wir brauchen schwere Waffen für die Ukraine, sonst werden wir diese Waffen eines Tages an unserer eigenen Grenze einsetzen müssen.
Dieterle: Ich möchte trotzdem noch mal hier bei uns im Land bleiben und zwar ein großes Thema ist halt hier nun mal die Energie. Das ist eine der Auswirkungen des Krieges auch auf uns und deutlich geworden ist beim Thema Energie, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien einfach zu langsam vorangeht, um uns da auf die Schnelle zu helfen. Deshalb rückt die Atomkraft gerade wieder in den Fokus. Wie positionieren Sie sich da?
Rhein: Na ja, wir sind ja nicht in der Situation, dass wir jetzt einfach so Optionen ausschließen können. Und deswegen rate ich bei allen Fragen, die wir gerade zu beraten haben, wirklich zu einer 360-Grad-Technologie-Offenheit. Erstens. Und zweitens rate ich jetzt nicht dazu, dass Ideologen Diskussionen führen, sondern dass Ingenieure Diskussionen führen, was möglich ist und was nicht möglich ist.
Dieterle: Das heißt also Offenheit, Offenheit auch für Atomkraft.
Rhein: Wie gesagt, wir müssen überprüfen, was geht, und wenn ich sehe, dass 10 Millionen Haushalte von den drei bestehenden Atomkraftwerken versorgt werden können, ist das eine Option, die man nicht einfach so ausschließen darf, die man aber ganz vernünftig diskutieren muss und überprüfen muss, ob es überhaupt Sinn macht, ob es wirksam ist und ob es hilft.
Dieterle: Herr Rhein, wir könnten trotzdem noch viel länger darüber sprechen, ich möchte mit Ihnen jetzt aber auch noch auf die Lage der Bundespartei zu sprechen kommen. Und die schauen wir uns jetzt zuerst mal an!
Eigentlich war es wie immer: Da schlug die SPD-Bundesinnenministern Nancy Faeser vor, dass bislang nur geduldete Migranten künftig dauerhaft bleiben dürfen. Unter bestimmten Integrationsvoraussetzungen zwar – aber es reichte, dass die Bundes-CDU dies vehement ablehnte. Sie sieht in dem Gesetzentwurf der Innenministerin, der mittlerweile vom Bundeskabinett beschlossen wurde, einen starken Anreiz für unerlaubte Migration.
Nun – dies ist exakt die Reaktion, die viele im Land von der CDU unter ihrem neuen Vorsitzenden Friedrich Merz erwarten durften, ja mussten. Nach der verlorenen Bundestagswahl geht es der CDU wieder um eine klare Positionierung im bürgerlichen-konservativen Lager – dies war in den Jahren zuvor zunehmend verloren gegangen.
Doch diese Reaktion stößt in der CDU keineswegs überall auf Zustimmung: Der frischgekürte hessische Ministerpräsident Boris Rhein macht sich für Faesers Position stark. Wie kann das sein – immerhin wird Faeser mit hoher Sicherheit seine direkte Konkurrentin im kommenden hessischen Wahlkampf. Vielleicht kann das Folgende als Erklärung dienen: Der Bundesvorsitzende Friedrich Merz kann klare Kante zeigen gegen SDP und die Grünen. Denn: Die nächste Bundestagswahl ist noch lange hin! Boris Rhein hingegen muss jetzt schon schauen, dass er nach der Hessenwahl auch einen Koalitionspartner findet. Da kann es nicht schaden, sich etwas sozialer und liberaler zu geben. Er muss allerdings hoffen, dass die Wähler dann nicht lieber gleich das grüne oder rote Original wählen. Fazit: Und immer stellt sich die eine Frage: Was ist der Markenkern der CDU?
Dieterle: Es gibt Stimmen, die sich häufen, die sagen, die CDU hat sich von dem Konservatismus, für den sie einmal gestanden hat, verabschiedet. Viele sagen, die CDU ist nicht mehr schwarz, die ist grün. Was entgegnen Sie?
Rhein: Nein, das ist vollkommen falsch. Wir sind die starke Kraft der Mitte. Wir sind die einzig verbliebene Volkspartei in Deutschland und das bedeutet, dass wir drei Wurzeln haben. Wir sind liberal, wir sind christlich-sozial und wir sind konservativ. Und deswegen präge ich natürlich auch diesen Begriff des „mitfühlenden Konservatismus“. Dort kommt eben zum Ausdruck, dass wir eben nicht nur eine wirtschaftsliberale und eine konservative Partei sind, sondern dass bei uns natürlich auch christlich-soziale Elemente eine große Rolle spielen. Das muss der Anspruch einer Volkspartei sein.
Dieterle: Das schauen wir uns genauer an, denn man hat schon den Eindruck, die CDU ist in den vergangenen Jahren zur Partei der erneuerbaren Energien geworden, hat sich von der Wehrpflicht verabschiedet, hat sich für die Ehe für alle ausgesprochen. Ich könnte das noch weiterführen. Das ist ja alles nicht das, wofür die CDU mal stand.
Rhein: Na ja, also weil Sie erneuerbare Energien ansprechen, da will ich sehr deutlich sagen, dass ist natürlich Politik der Union. Wir wollen doch unser Klima bewahren, wir wollen unser Klima schützen. Die Bewahrung der Schöpfung ist eine der Grundideen, eine der Leitlinien der CDU seit ihrer Gründung. Und die anderen Themen sind ja soziale Themen und natürlich auch gesellschaftspolitische Themen. Da hat sich doch in den vergangenen 20, 30 Jahren die Gesellschaft enorm gewandelt. Und wir können doch nicht mit den Rezepten der 50er Jahre auf die Geschehnisse im Jahr 2022/23 antworten.
Dieterle: Sie haben selbst in Ihrer Regierungserklärung den Klimaschutz ganz zentral in den Mittelpunkt gestellt. Ist das der richtige Weg, um sich von den Grünen abzugrenzen? Weil das, was Sie gerade gesagt haben zum Thema Klima, das hätte natürlich auch von den Grünen kommen können.
Rhein: Ja, aber es ist ja deswegen nicht falsch, sondern es ist einfach wichtig und richtig. Wer in die Wälder in unserem Land geht, sieht, was Dürre und was Klimawandel angerichtet hat. Wer die Katastrophenereignisse erlebt, beispielsweise im Ahrtal, weiß doch, was die Zeit geschlagen hat. Und wenn wir unser Land so hinterlassen wollen, wie wir es vorgefunden haben, und wenn wir unsere Kinder über Generationen nicht belasten wollen mit Klimaschäden, die wirklich existenziell sind, dann müssen wir jetzt dringend handeln. Da ist es egal, ob man Christdemokrat, Grüner oder Sozialdemokrat ist, es ist die Verantwortung der Generationen.
Dieterle: Wenn wir schon beim Thema Unterscheidbarkeit sind, da haben Sie ja ganz zu Beginn Ihrer Amtszeit überrascht, in dem Sie einem Vorschlag der SPD beigesprungen sind. Und zwar haben Sie Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei Ihrem Plan unterstützt, geduldeten Migranten, die seit fünf Jahren hier leben, ein Bleiberecht zu geben. Entgegen dem Willen der Bundes-CDU. Haben Sie damit Ihre eigene Partei ja gleich zum Amtsantritt mal so vor den Kopf gestoßen?
Rhein: Nein, ich rate bei dem Thema Zuwanderung zu mehr Gelassenheit. Also, wir müssen doch definieren „Zuwanderung, die uns nutzt“. Und wir müssen auch darüber reden, ob wir Fachkräfte nach Deutschland holen müssen. Und egal wo ich hinkomme, ist das Thema Fachkräftemangel ein großes Thema. Also rate ich bei dem Thema zu größerer Gelassenheit. Und was diese Chancenaufenthaltsrecht betrifft, ist zu sagen, also zunächst einmal müssen die Leute ja schon mal fünf Jahre hier leben. Zweitens: Sie müssen sich zu unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung bekennen. Und drittens: Dann kriegen sie für ein Jahr die Chancen, alle weiteren Voraussetzungen für ein dauerhafteres Bleiberecht sich zu erarbeiten. Ich glaube, es ist der richtige Weg. Es ist ein vernünftiger Weg, ein besonnener Weg.
Dieterle: Haben Sie sich für das Bleiberecht ausgesprochen, weil Sie ja unangenehme Abschiebungen scheuen?
Rhein: Nein. Also, ich habe als Innenminister natürlich abgeschoben und ich habe als Innenminister auch diese Linie durchgesetzt. Und wer in unserem Land unrechtmäßig ist, muss auch weiterhin abgeschoben werden. Das ist doch gar keine Frage. Da kann es meines Erachtens auch gar keine zwei Meinungen geben. Und deswegen wird es auch weiterhin – und das ist ja auch Kern dieses Bleiberechts – eine Rückführungsoffensive geben für Personen, die in unser Land gekommen sind und die hier kein Bleiberecht haben. Das eine bedingt das andere.
Dieterle: Was sagen Sie zu dem Argument, dass dieses Bleiberecht ja einen massiven Anreiz bietet für illegale Migration?
Rhein: Das sind diese angeblichen sogenannten Pull-Effekte. Dieses Bleiberecht gibt es ja nur unter Voraussetzung. Die Voraussetzungen müssen erfüllt sein und wenn die erfüllt sind, dann kommt es nicht zu Pull-Effekten. Da muss man sich nichts vormachen. Die Menschen müssen ja erst mal fünf Jahre hier gewesen sein.
Dieterle:Herr Rhein, das lassen wir an dieser Stelle so stehen. Wir sind fast am Ende unseres Sommerinterviews angekommen. Wir haben zum Schluss aber noch vor, das Tempo ein bisschen zu erhöhen. Sie bekommen von mir schnelle Fragen. Ich möchte spontane Antworten.
Rhein: O weh!
Dieterle. Gibt es etwas, das Sie an Ihrem Amt als Landtagspräsident schon jetzt vermissen?
Rhein: Ach … Schnelle Antworten, schnelle Fragen, schnelle Antworten … Ich habe das Amt sehr gemocht. Was ich sehr vermisse, ist, dass ich jetzt niemandem mehr das Wort erteilen kann.
Dieterle: Was hat Ihre Frau gesagt, als Sie ihr gesagt haben: „Schatz, ich soll Ministerpräsident werden“?
Rhein: Ich habe mit meiner Frau darüber länger geredet. Am Ende hat meine Frau mir zugeraten, den Schritt zu machen, weil sie wusste, dass wenn ich die Chance nicht ergreife, wahrscheinlich ich irgendwann unglücklich werde.
Dieterle: Okay. Haben Sie schon rausgefunden, von wem die fünf Stimmen kamen, die Sie neben den schwarz-grünen Abgeordneten zum MP gewählt haben?
Rhein: Nein, das wäre auch schlimm, weil es eine geheime Wahl war. Da kann man nichts rausfinden.
Dieterle: Und da wird auch nicht geredet?
Rhein: Da wird auch nicht geredet. Jedenfalls … also mir hat es niemand gesagt.
Dieterle: Wie oft telefonieren Sie mit Volker Bouffier?
Rhein: Immer dann, wenn wir wollen. Aber Volker Bouffier schreibt mir hin und wieder eine SMS. Ich schreibe ihm eine SMS, wenn ich einen Rat brauche. Wir sind in einem engen Austauschverhältnis, aber es ist nicht so, als würde das irgendwie so sein, dass der eine dem anderen den Rat aufdrängt und der andere vielleicht zu oft anruft und um Rat fragt.
Dieterle: Wenn Sie Nancy Faeser und Tarek Al Wazir am selben Abend zum Dinner einladen würden, wem würden Sie zusagen?
Rhein: Ich würde vorschlagen, dass wir uns zu dritt zusammensetzen
Dieterle: Ich wusste, dass das kommt. Und wenn Sie sich entscheiden müssen?
Rhein: Das ist aber wirklich eine gemeine Frage.
Dieterle: Ja.
Rhein: Kann ich Ihnen nicht beantworten. Da würde ich wahrscheinlich absagen und mit meiner Frau essen gehen.
Dieterle: Wie war es, als Rhein am Main aufzuwachsen?
Rhein: Eigentlich unproblematisch. Eine wunderbare Stadt, meine Heimatstadt Frankfurt, und deswegen bin ich dort sehr schnell integriert worden als Rhein.
Dieterle: Gibt es Montage, an denen Sie denken: „Oh Gott, schon wieder Montag“?
Rhein: Ja, an jedem Montag.
Dieterle: Jeder Montag?
Rhein: Jeder Montag.
Dieterle: Ja, bei dem vollen Terminkalender. Heute ist zum Glück Freitag, Herr Rhein, und Sie haben es geschafft. Das war unser Sommerinterview. Vielen Dank, dass Sie sich den Fragen hier gestellt haben.
Rhein: Ich bedanke mich sehr bei Ihnen, Frau Dieterle.