Das Interview zur Bundestagswahl – Zu Gast Volker Wissing (FDP)

23 Tage bis zur Bundestagswahl. Nach 16 Jahren Angela Merkel wird es nach der Bundestagswahl am 26. September einen neuen Regierungschef geben. Und eine Partei, die da mit ganz großer Wahrscheinlichkeit ein Wörtchen mitzureden hat ist die FDP. Zu Gast ist diesmal Volker Wissing, FDP-Generalsekretär und rheinland-pfälzischer Spitzenkandidaten der Liberalen.

Beitrag 1: 
Ja, die Freien Demokraten. Sie sind wieder wer. Zumindest in den aktuellen Umfragen. Dort liegen sie zwischen 11 und 13,5 Prozent. Doch bei der aktuellen Schwindsucht der Union fragen sich trotzdem manche: Könnte daraus nicht deutlich mehr für die Liberalen rausspringen? Denn die politischen Schnittmengen sind mit den Unionsparteien allemal größer als mit jeder anderen Partei. Und so hatte sich FDP-Chef Lindner längere Zeit darauf eingestellt, mit der CDU nach der Wahl gemeinsam in die deutsche Zukunft zu schreiten. Doch das unerwartete Erstarken der SPD zwingt der FDP neue, deutlich unbequemere Gedankenspiele auf. Was, wenn nach der Wahl eine Ampel die einzige Rettung vor Rot-Rot-Grün bliebe? Offiziell wehrt sich Parteichef Lindner. Ihm fehle, so sagte er, noch die Fantasie, welches Angebot Herr Scholz und Frau Baerbock der FDP machen könnten. Doch unser Studiogast, FDP-General Volker Wissing, dürfte seinem Chef längst erklärt haben, dass eine Ampel am Ende des Tages nicht völlig undenkbar sein muss. Schließlich hat er in Rheinland-Pfalz mit Malu Dreyer und den dortigen Grünen gute Erfahrungen gemacht. Klar ist: Scholz müsste der FDP vor allem in der Finanz- und Steuerpolitik einiges bieten. Und er wird wissen: Noch einmal kann man die FDP nicht wieder am Katzentisch verhungern lassen. Wie es Merkel und die Grünen vor einigen Jahren in den Jamaika-Gesprächen taten. Lindner wiederum dürfte klar sein: Stiegen die Liberalen wieder aus, dann könnte endgültig der Weg frei sein für ein strammes Linksbündnis. Eine Vorstellung, die nicht nur, aber vor allem Liberale frösteln lassen müsste.
Eva Dieterle, Moderatorin: „Ja, und jetzt begrüße ich Volker Wissing bei mir im Studio. Herzlich willkommen!
Volker Wissing, FDP, Spitzenkandidat der FDP Rheinland-Pfalz für die Bundestagswahl 2021: „Ich grüße Sie.“
Dieterle: „Herr Wissing, lässt Sie diese Vorstellung denn frösteln?“
Wissing: „Also eine rot-rot-grüne Regierung für die Bundesrepublik Deutschland wäre eine Katastrophe. Wir würden international uns isolieren und würden uns wirtschaftlich in eine ganz schwierige Situation manövrieren. Das kann wirklich niemand wollen.“
Dieterle: „Um Rot-Rot-Grün zu verhindern, könnten Sie ja einen ganz aktiven Beitrag leisten. Für welche Koalitionsmöglichkeit schlägt denn das Herz der FDP mehr – für ein Bündnis mit der CDU plus X oder doch für eines mit Olaf Scholz und den Grünen?“
Wissing: „Die FDP will nichts verhindern, sondern etwas gestalten. Wir wollen das Land nach vorne bringen. So wie es ist, darf es nicht bleiben. Deutschland braucht einen Modernisierungskurs und eine Stärkung der Sozialen Marktwirtschaft. Die Herausforderungen, die vor uns liegen, sind zu groß, um jetzt wirtschaftlich zu schwächeln.“
Dieterle: „Jetzt haben Sie gerade so ein bisschen auf den Punkt gebracht, wofür das Herz der FDP schlägt. Ich möchte trotzdem noch mal auf die Frage kommen. Denn der Wähler möchte ja schon wissen, was er bekommt, wenn er die FDP stark macht.“
Wissing: „Nun, die Schwäche der CDU zeigt: Auf die FDP kommt es jetzt an. Wir sind ein Stabilitäts- und Sicherheitsanker für marktwirtschaftliche Politik. Und wenn die FDP stark in eine Regierung einzieht, dann werden wir dafür sorgen, dass wir eine solide Haushaltspolitik bekommen. Eine Steuerpolitik, die Deutschland auf Wachstumskurs bringt. Um die großen Probleme Klimaschutz, Transformation der Wirtschaft und Industrie, demografische Probleme und den Zusammenhalt in Europa in den Griff zu bekommen.“
Dieterle: „Ich möchte das Verhältnis zu den anderen möglichen Koalitionspartnern mal durchgehen. Wir starten mit der CDU. Man hat so das Gefühl, das Verhältnis der FDP zur CDU ist deutlich abgekühlt. Sie selbst haben im Sommer gesagt: „Die CDU ist nicht mehr der natürliche Partner der FDP.“ Aber es gibt doch gerade im Bereich Finanzpolitik, Steuerpolitik mit der Union deutlich mehr Schnittmengen als mit SPD und Grünen?“
Wissing: „Das ist richtig. Mich stört, dass die CDU ihr Verhältnis zu den Grünen nicht geklärt hat. Und ich glaube, das schadet ihr jetzt auch im Wahlkampf. Die Bürgerinnen und Bürger wissen nicht, wofür die CDU steht. Wir haben im Programm der CDU Überschneidungen mit der Finanzpolitik der FDP. Aber die CDU hat in den letzten 16 Jahren so ziemlich jede Steuerreform verhindert. Und das ist etwas, was man hätte klären müssen in dieser Wahl. Und deswegen glaube ich, die CDU muss dringend Klarheit schaffen über ihre eigenen Standpunkte. Man muss wissen, wofür eine Partei steht. Das ist bei der CDU sowas von unklar. Und deswegen glaube ich, es gibt eine Möglichkeit der Zusammenarbeit. Es gibt auch Parallelen und Übereinstimmungen in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen. Aber es reicht ja nicht, dass Programme übereinstimmen. Man muss einer Partei auch abnehmen, dass sie den Willen hat, die Dinge umzusetzen. Das hat die CDU in den letzten Jahren nicht gezeigt.“
Dieterle: „Kommen wir zu den Grünen. Annalena Baerbock hat sich jetzt gerade erst für eine Meldeplattform zur Ermittlung von Steuersündern ausgesprochen. Die FDP hat das ja schon kritisiert. Das ist mit Ihnen nicht zu machen?“
Wissing: „Na ja, die Möglichkeit, solche Anzeigen zu machen, gibt es ja in allen Bundesländern. Aber, dass man eine Plattform etabliert, um quasi die Denunziation des Nachbarn möglichst komfortabel digital abzuwickeln, das irritiert schon. Also, ich glaube, Digitalisierung hat andere Dimensionen und sollte uns andere Themen aufgeben als jetzt Denunziationsplattformen. Wir brauchen Digitalisierung im Bildungsbereich, in der Wirtschaft, auch im öffentlichen Bereich. Aber was wir nicht dringend brauchen, ist eine Denunziationsplattform.“
Dieterle: „Die Grünen wollen ein Ministerium mit einem Vetorecht für alle Entscheidungen, weil sie sagen, den Klimazielen muss alles untergeordnet werden. Wäre das für die FDP eine rote Linie?“
Wissing: „Nein, das hat die FDP in Rheinland-Pfalz verhindert. Da wollten die Grünen das auch. Und das wird die FDP auf keinen Fall auf Bundesebene akzeptieren.“
Dieterle: „Das heißt also, auch eine rote Linie. Schauen wir auf die SPD. Die will massive Steuererhöhungen für Gutverdiener und Vermögende und geißelt damit quasi die Steuersenkungspläne der FDP. Sie sagt, sie seien unsolidarisch und auch schlicht nicht finanzierbar. Wie soll das zusammenkommen?“
Wissing: „Die SPD übersieht, dass ihre Steuerpläne unfair sind. Sie will den Einkommensteuertarif erhöhen und sagt den Menschen nicht, dass der Einkommensteuertarif der Unternehmenssteuertarif des Mittelstands ist. Die großen Unternehmen, die Industrie zahlen 30 Prozent. Der Mittelstand heute schon 12 Prozent mehr. Und dann zu sagen, da können wir noch mal drei Prozent draufknallen, nach dieser Pandemie und den ganzen Folgen, die die Wirtschaft zu tragen hatte. Das ist unfair. Und wir werden auch keine Wachstumspolitik generieren, wenn wir ausgerechnet dem Mittelstand, dem Rückgrat der deutschen Wirtschaft, die Steuern erhöhen. Deswegen wird die FDP das unter keinen Umständen mitmachen.“
Dieterle: „Haben Sie eine Fantasie, wie das auf einen Nenner kommen soll in diesem Bereich mit der SPD?“
Wissing: „Das kann nur so funktionieren, dass die SPD ihre Vorschläge zurücknimmt. Jedenfalls wird die FDP das nicht unterstützen. Ich kann nachvollziehen, dass die SPD für bestimmte Kreise ihrer eigenen Partei solche Angebote machen muss. Aber wir müssen die gesamte Gesellschaft im Blick haben. Der Mittelstand schafft Arbeitsplätze, er sichert Wohlstand und er hat enorme Kraftanstrengungen vor sich. Die Klimaneutralität, die Digitalisierung, die Folgen der Pandemie. Das alles muss die Wirtschaft stemmen. Und wer meint, man könnte es ihr leichter machen, indem er ihr die Steuern erhöht, der hat irgendetwas in unserem Wirtschaftssystem nicht richtig verstanden. Und deswegen ist die FDP hier ganz klar. Es wird keine Steuererhöhungen mit der FDP geben.“
Dieterle: „Eine Koalition gibt es aber natürlich nur, wenn auch Sie Kompromisse machen.“
Wissing: „Wir sind ja bereit, über mögliche Zusammenarbeit zu reden. Mit der CDU, auch mit anderen demokratischen Parteien. Aber es ist auch klar, dass wir uns nicht beteiligen an einer Politik, die unsere Soziale Marktwirtschaft schwächt. Weil wir uns wirtschaftliche Schwäche nicht leisten können in den nächsten Jahren.“
Dieterle: „Für uns zählen die Inhalte. Das sagt die FDP immer wieder. Wir sind jetzt quasi schon mittendrin. Wir wollen aber noch auf weitere Themen im Wahlprogramm schauen. Zuerst gibt es aber ein bisschen Wahlkampf.“
Beitrag 2:
Von der großen politischen Bühne in Berlin geht es für Volker Wissing heute erst einmal auf die etwas kleinere Bühne in Hackenheim bei Bad Kreuznach. Wahlkampfveranstaltung der FDP Rheinland-Pfalz vor gut 50 Interessierten.
Volker Wissing, FDP, Spitzenkandidat der FDP Rheinland-Pfalz für die Bundestagswahl 2021: „Wahlkampf in Rheinland-Pfalz zu machen ist für mich, Wahlkampf zu Hause zu machen und insofern etwas Besonderes. Und das sind auch Termine, bei denen ich etwas entspannter bin.“
Und so wirkt er auch an diesem Abend. Dabei geht es für die FDP und ihn ganz persönlich um sehr viel. Volker Wissing will zurück in den Bundestag, in dem er von 2004 bis 2013 schon einmal saß. Hier bei Bad Kreuznach erhoffen sich die Freien Demokraten vor allem, Stimmen von den Winzern aus der Region zu bekommen. Wissing, der selbst auf einem Weingut groß geworden ist und als rheinland-pfälzischer Wirtschaftsminister auch für den Weinbau verantwortlich war, weiß um die Bedeutung des edlen Tropfens in der Region.
Volker Wissing, FDP, Spitzenkandidat der FDP Rheinland-Pfalz für die Bundestagswahl 2021: „Wein ist ein besonderes Produkt. Es ist ein Kulturgut, das seit Jahrhunderten von Menschen hergestellt wird, mit sehr viel Leidenschaft. Und das, was unsere Winzerinnen und Winzer heute ins Glas bringen, ist wirklich außergewöhnlich. Das sind Kunstwerke, die Menschen glücklich machen. Und auch in der Politik kann man mit einem Glas Wein viel erreichen.“
Erreichen will die FDP am 26. September auch möglichst viele Wähler. Inhaltlich will die Partei mit diesen Punkten überzeugen. Die FDP kündigt in ihrem Wahlprogramm einen Entfesselungspakt für die Wirtschaft an. So will sie die Unternehmen und Bürger von Bürokratie, Steuern und Abgaben entlasten. Der Solidaritätszuschlag soll ebenso wegfallen wie die Steuern für Kaffee, Bier und Schaumwein. Die FDP lehnt eine Vermögenssteuer und eine Verschärfung der Erbschaftssteuer ab. Parteichef Christian Lindner hat den Verzicht auf Steuererhöhungen zur Bedingung für eine Regierungsbeteiligung gemacht. Die FDP will Deutschland bis 2050 klimaneutral machen. Dabei setzt sie auf den erweiterten Emissionshandel, aber vor allem auf neue Erfindungen. In der Energie- und Verkehrspolitik wollen die Freidemokraten nur Grenzwerte vorgeben, aber keine Technologie durch staatliche Förderung bevorzugen. Im Bereich der Migration wollen sie die Einwanderung durch ein Punktesystem steuern und eine faire Verteilung der Asylbewerber auf alle EU-Staaten. Viele dieser Punkte spricht auch Volker Wissing an diesem Abend an und bekommt dafür immer wieder Applaus. In gut drei Wochen wird sich zeigen, wie stark der Zuspruch für die FDP tatsächlich ist. Und wer weiß, vielleicht führt der Weg Volker Wissing von Hackenheim aus ja dann direkt weiter auf die Regierungsbank in Berlin.
Dieterle: „Ja, auch die FDP will Deutschland klimaneutral machen. Wir haben uns da ehrgeizige Ziele gesetzt. China zum Beispiel lässt sich dafür 15 bis 20 Jahre mehr Zeit. Ist das nicht ein gewaltiger Kostenvorteil für die chinesische Produktion? Kann da die deutsche Wirtschaft nicht einpacken?“
Wissing: „Das muss man im Blick haben. Auch bei dem Weg, den man geht. Gleichzeitig bedeutet aber auch Klimaneutralität einen Wettbewerbsvorteil für die deutsche Wirtschaft. Wenn wir es als Erste erreichen, haben wir einen Vorteil, weil die anderen werden nachziehen müssen. Der Klimawandel kann so nicht unaufgehalten fortgeführt werden. Und deswegen brauchen wir schnelle Klimaneutralität in Deutschland. Aber mit der Wirtschaft, nicht gegen sie. Wenn wir die Wirtschaft überfordern, riskieren wir, viel zu verlieren. Es ist der klassische Bogen, den man überspannen kann.“
Dieterle: „Aber gehört zur Wahrheit nicht auch dazu, dass wenn wir das alleine bis 2045 durchziehen, dann in Deutschland sehr viele Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen? Weil wir gar nicht konkurrenzfähig sind?“
Wissing: „Das darf nicht passieren. Ich weiß aber aus vielen Gesprächen mit der Wirtschaft, auch der Industrie, dass sie sich das zutraut. Wenn die Regulierung so gestaltet wird, dass man ihr nicht zu viel aufbürdet, gleichzeitig. Das heißt, das muss eine Regulierung sein, die fordernd ist, aber nicht überfordert.“
Dieterle: „Kommen wir zu einem weiteren wichtigen Thema, und zwar zur Massenmigration. Der Fall Afghanistans hat das wieder ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. 70 Prozent der Deutschen befürchten eine neue Flüchtlingswelle. Wie geht die FDP mit diesem Thema um?“
Wissing: „Es ist in den letzten Jahren zu wenig passiert. Die Union sagt, eine Flüchtlingskrise wie 2015 darf sich nicht wiederholen. Aber Politik muss ja mehr sein, als Wünsche zu äußern. Sie muss gestalten. Wir brauchen dringend eine europäische Lösung für die Migrationsfragen. Die USA ziehen sich aus dem Mittleren und Nahen Osten zurück. Wir haben eine besorgniserregende Bevölkerungsentwicklung in Afrika. Wenn man die Ernährungssituation sich dort anschaut, drohen dort auch Probleme. Das heißt, wir müssen anerkennen, dass die Situation unserer nächsten Nachbarn auch unsere Angelegenheit ist. Das kann aber nicht ein Mitgliedsstaat wie Deutschland alleine bewältigen, sondern es kann nur eine gemeinsame Anstrengung der Europäischen Union sein. Die ist aber auch notwendig, weil wir sind eine Wertegemeinschaft und wir haben klare Vorstellungen von Menschenrechten und Humanität. Und es darf nicht passieren, dass Menschen ertrinken, weil sie auf der Flucht sind, um ihr Leben zu schützen oder sich ernähren zu können. Und diese Fragen muss man präventiv angehen und nicht in eine Situation steuern wie die Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2015. Und es reicht auch nicht, zu sagen, es darf sich nicht wiederholen. Ohne, dass man ein klares Konzept hat, wie man das verhindert.“
Dieterle: „Den Aspekt der Europäischen Gemeinschaft möchte ich noch mal aufgreifen. Denn Österreichs Kanzler Sebastian Kurz hat schon gesagt: Hilfe für afghanische Flüchtlinge vor Ort ja, aber keine weitere Einwanderung nach Österreich. Die Dänen, die Tschechen, die ticken ganz ähnlich. Sie sprechen aber von einer soliden Verteilung von Asylbewerbern über die EU-Staaten. Wenn aber doch kaum jemand mitmacht, wie soll das funktionieren?“
Wissing: „Die beste Migrationspolitik oder die beste Flüchtlingspolitik ist die Vermeidung der Flucht. Das heißt, wir müssen uns stärker gemeinsam in Europa anstrengen und dafür sorgen, dass die Menschen keinen Grund haben, ihre Heimat zu verlassen. Das ist der erste Schritt. Und dann müssen wir dafür sorgen, dass wenn Flucht unvermeidbar ist… Wir haben ja beispielsweise die Situation, dass Menschen jetzt in Afghanistan, die den Alliierten dort geholfen haben als Ortskräfte, in ihrem Leben bedroht sind. Wenn solche Situationen drohen, dann müssen wir uns in Europa gemeinsam anstrengen, um diesen Menschen einen sicheren Hafen zu bieten.“
Dieterle: „Unter allen westlichen Ländern ist Deutschland schon das Land, das die meisten anerkannten Flüchtlinge aufgenommen hat. Und die sind lange noch nicht integriert. Wenn wir jetzt noch mal deutlich mehr aufnehmen würden – wir haben eben jetzt auch zum Beispiel den Fall mit Afghanistan – dann wäre unsere Gesellschaft doch damit wirklich überfordert?“
Wissing: „Absolut. Deswegen darf es auch nicht dazu kommen, dass am Ende alle nach Deutschland wollen. Und wir vor der Frage stehen, die Menschen entweder aufzunehmen, was unsere Gesellschaft überfordern würde. Oder aber humanitäre Katastrophen auszulösen, was unseren Wertevorstellungen widerspricht. Das ist eine klassische Dilemma-Situation, in die wir nicht hineingeraten dürfen. Deswegen ist hier eine proaktive, gestaltende Politik dringend erforderlich. Dieses Sich-Zurücklehnen und zu warten, was auf einen zukommt, ist grundfalsch in einer solchen Lage.“
Dieterle: „Herr Wissing, an dieser Stelle so viel zu diesem Thema. Denn ich möchte mit Ihnen auch noch auf den Komplex Corona zu sprechen kommen. Und dafür gibt es jetzt einen ganz kurzen Blick auf die aktuelle Lage.“
Beitrag 3:
Die Coronazahlen, sie steigen wieder. In Rheinland-Pfalz beträgt die 7-Tage-Inzidenz heute bereits 90,7. Und auch im Bund hat die Zahl der Neuinfizierten auf 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen die Achtzigergrenze wieder überschritten. Doch während die Entwicklung der Zahlen beunruhigend an die Zeiten vor den letzten Coronawellen erinnert, gibt es einen entscheidenden Unterschied. Inzwischen sind bereits rund 61 Prozent der Deutschen vollständig geimpft. Doch die Impfkampagne ist längst ins Stocken geraten.
Dieterle: „Ja, die Impfkampagne ist ins Stocken geraten. Eine höhere Impfquote würde ja aber sicherstellen, dass es keinen weiteren Lockdown geben muss. Wäre es angesichts dessen nicht angemessen, den Impfdruck zu erhöhen?“
Wissing: „Es ist für eine freie Gesellschaft immer eine Kapitulation, wenn sie es nicht schafft, mit dem Argument zu überzeugen. Es spricht doch alles für die Impfung. Die Impfung schützt Leben. Sie schützt das eigene Leben und sie schützt das Leben anderer, auch und insbesondere unserer Kinder. Und deswegen ist es so wichtig, dass wir die Überzeugungsarbeit intensivieren. Die Ärzte auf den Intensivstationen berichten, dass Patienten kommen, die schwer an COVID-19 erkrankt sind und sagen: Wenn ich gewusst hätte, was für Risiken ich eingehe, hätte ich mich impfen lassen. Das zeigt doch, dass wir einen Informationsbedarf haben, der über das bisherige Maß hinausgeht. Ich schlage vor, dass wir jetzt mit diesen Impfbussen noch stärker in die Gegenden fahren, wo wir wissen, dass die Impfquote niedrig ist. Dass wir vor Ort den Menschen ein niedrigschwelliges Angebot machen. Wir haben das vor vielen Monaten schon gefordert und dann wurde gelacht. Ach, Impfen vorm Supermarkt. Hahaha. Nein, genau das ist der richtige Weg. Den Impfstoff zu den Menschen bringen, es ihnen leicht machen.“
Dieterle: „Aber die Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, denen ist ja dann auch der Bus vor der Tür egal.“
Wissing: „Wir wollen in Deutschland keine Impfpflicht. Das hat die Bundesregierung erklärt. Und das teile ich auch. Deswegen brauchen wir die Kraft der Überzeugung des Arguments. Und wir brauchen einen einfachen Weg. Es sind auch Hürden aufgebaut worden. Viele Menschen haben berichtet, wie kompliziert es war, einen Termin im Impfzentrum zu bekommen. Und wie viel Scherereien man hatte, wenn man ihn verlegen musste, weil man einen wichtigen anderen Termin hatte. Solche Sachen müssen ja nicht sein.“
Dieterle: „Heute kam die Meldung, dass sich die Große Koalition geeinigt hat, dass Arbeitgeber in sensiblen Bereichen den Impfstatus ihrer Mitarbeiter abfragen dürfen. Wäre es aus Sicht der FDP nicht sinnvoll, das auf alle Arbeitgeber auszuweiten? In Großraumbüros oder Ähnlichem haben wir doch auch eine prekäre Situation?“
Wissing: „Die Frage ist: Was macht man mit den Informationen? Man fragt den Impfstatus ab und dann hat man die Information. Was ist dann der nächste Schritt? Das ist ja die entscheidende Frage. Also, nur aus Neugier Dinge zu erfragen, ohne dann mit den Informationen etwas Konkretes anzufangen, macht ja nun keinen Sinn. Wir können ja nicht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung einschränken, ohne dass wir einen Grund dafür haben. Also, was soll damit gemacht werden? Sollen die Mitarbeiter, die nicht geimpft werden, vielleicht auch, weil sie nicht geimpft werden können, ausgesperrt werden von der Arbeit? Sollen sie nicht zum Arbeitsplatz kommen dürfen? Wenn das damit gemeint ist, dann halte ich nichts davon.“
Dieterle: „Also, für die FDP auch da noch viele Fragen offen. Herr Wissing, das Thema Corona wird uns mit Sicherheit auch nach dem 26. September, nach der Bundestagswahl, noch beschäftigen. Ich bedanke mich für das Interview. Dankeschön.“
Wissing: „Ich danke Ihnen.“