VdK fordert mehr Zeit und Geld für pflegende Angehörige

Knapp 160.000 Menschen sind in Rheinland-Pfalz pflegebedürftig, über 260.000 in Hessen. Die Mehrheit von ihnen wird von Familienangehörigen versorgt. Doch die haben es oft nicht leicht, Pflege und Berufsleben unter einen Hut zu bringen. Wie kann man diese Menschen besser unterstützen? Darüber spricht Markus Appelmann mit Paul Weimann vom Sozialverband VdK Hessen-Thüringen. Zunächst schauen wir nach Mittelhessen, wo ein Ehepaar die Tochter und die Großmutter pflegt.

Anne ist 37 und leidet seit ihrer frühen Kindheit an Epilepsie mit häufigen Krampfanfällen. Ihre Mutter Ulrike Kauss kümmert sich schon Annes ganzes Leben um sie. Ihre Tochter hat den höchsten Pflegegrad 5 und muss rund um die Uhr betreut werden. Ob bei der Einnahme von Medikamenten, Essen und Trinken, beim Gang zur Toilette oder beim täglichen Anlegen ihrer Kompressionsstrümpfe.
Ulrike Kauss, Mutter von Anne
„Weil sie so ein schwaches Bindegewebe hat, dann werden die Knöchel so dick. Und dass ist schmerzhaft. Und deshalb muss sie diese Kompressionsstrümpfe – ob Winter, ob Sommer – immer anziehen.“
Dreimal pro Woche besucht Anne eine Einrichtung für Gehandicapte, an zwei Tagen kommt für wenige Stunden eine Betreuerin. Die meiste Zeit aber kümmern sich ihre Eltern um sie. Mutter Ulrike könnte sich nicht vorstellen, ihre Tochter dauerhaft in ein Heim zu geben.
Ulrike Kauss, Mutter von Anne
„Weil es für mich normal ist. Ich sage, es ist ein Glück, dass Anne es als Kleinkind bekommen hat. Wir sind reingewachsen, ich kenne es nicht anders.“
Kurzer Kontrollanruf bei ihrer ebenfalls pflegebedürftigen Mutter. Die 90-Jährige wohnt zwar allein, aber auch um sie muss sich Ulrike Kauss kümmern. Um die Doppelbelastung zu stemmen, arbeitet sie nur in Teilzeit als Schülerbetreuerin. Ihr Mann Edmund arbeitet schon seit 25 Jahren freiberuflich als Finanz- und Versicherungsmakler, um mehr Zeit mit seiner Tochter verbringen zu können.
Edmund Kauss, Vater von Anne
„Im Angestelltenverhältnis konnte ich nie weg, wenn irgendwas war. Wenn das Kind mal erkrankt war oder ins Krankenhaus musste. Ich war immer 30 oder 38 Kilometer weg, je nachdem, wo der Arbeitgeber saß. Und meistens konnte ich gar nicht weg.“
Neben der Doppelbelastung stört Familie Kauss vor allem die viele Bürokratie. Pflegegeldanträge, zustehende Betreuungsstunden einfordern, Berichte an Krankenkasse, Kreisverwaltung und Betreuungsgerichte. Annes Eltern fühlen sich oft allein gelassen.
Ulrike Kauss, Mutter von Anne
„Diese langen Wege. Viele Leute wissen ja gar nicht, was ihnen zusteht, Hilfsmittel, an welche Organisation kann ich mich wenden?“
Zudem brachten die vergangenen beiden Jahre eine zusätzliche Belastung mit sich: Wegen der Corona-Pandemie konnte Anne lange Zeit nicht ihre Fördereinrichtung besuchen. Immerhin kann sie sich darauf inzwischen wieder freuen.
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Markus Appelmann, Moderator: Und diesen Einblick wollen wir jetzt vertiefen mit Paul Weimann bei uns im Studio, der Vorsitzende des Sozialverbandes VdK Hessen-Thüringen. Herzlich willkommen!
Paul Weimann, Vorsitzender Sozialverband VdK Hessen-Thüringen: Vielen Dank-
Appelmann: Herr Weimann, wor haben gerade eben gesehen, die Familie kümmert sich aufopferungsvoll um die Tochter, aber die Familie sagt auch:“Wir kommen da an unsere Grenzen“. Hören Sie das öfter?
Weimann: Ja, leider. Das ist so, Pflege ist ein wahnsinnig anstrengendes System, im häuslichen Bereich noch mehr als in den Institutionen. Sie müssen sich vorstellen, das sind 24 Stunden mal sieben Tage und je nachdem wie lange das Jahre geht, Sie haben es ja im Beitrag gesehen, viele Jahre, Jahrzehnte sogar, und das geht an die Substanz. Sie müssen permanent für den zu Pflegenden da sein. Und irgendwann ist der Pflegende mal in dem Zustand, dass er an der Grenze ist. Und wir haben viele Fälle, die dann selbst Pflegefälle werden aufgrund der wahnsinnigen Belastung.
Appelmann: Und deswegen sagen Sie auch als VdK: „Da muss sich was ändern bei der häuslichen Pflege; de Rahmenbedingungen müssen sich ändern“. Was muss da Politik tun und was muss zum Beispiel auch die Kommune tun?
Weimann: Gut, die Politik ist auf halbem Wege stehen geblieben. Pflegeversicherung ist nur eine Teilkaskoversicherung, sie hätte eigentlich eine Vollpflegeversicherung sein sollen, das fordern wir auch vom VdK, damit die finanziellen Belastungen nicht so stark werden. Das ist die große Politik auf Bund- und Landesebene. Aber Sie haben zu Recht gesagt: Pflege findet vor Ort statt, in den Kommunen und viele Fälle, das haben Sie auch in dem Beitrag gehört, leiden darunter, dass sie einfach keine Informationen bekommen, dass also Hilfsmittel da sind, aber Sie müssen sie beantragen, dass Sie Unterstützung haben könnten im hauswirtschaftlichen Bereich, aber auch das muss auch wieder beantragt werden. Und was noch schlimmer ist und was wir wirklich einfordern, in der Kommune selbst ein soziales Umfeld zu schaffen, dass die Nachbarn sich darum kümmern, dass sich die Kommune darum kümmert, Angebote macht, Tagespflege macht, damit also die, die pflegen, auch mal ab und zu mal durchatmen können, mal ins Kino gehen können, noch mal einkaufen gehen und Ähnliches. Das fordern wir auch ein. Also dieses normale menschliche Umgehen mit anderen Menschen muss auch von einer kommunalen Seite erkannt werden. Das ist soziale Infrastruktur genau wie Wasser, Abwasser, Straßenbau, muss auch dieses Miteinander der Menschen dann da sein.
Appelmann: Sie haben es ja eben gesagt, man weiß noch zu wenig über Pflege. Viele Menschen wissen zum Beispiel gar nicht, dass sie sich eine Auszeit im Beruf nehmen können, wenn sie Angehörige zu Hause pflegen möchten. Wie läuft das ab?
Weimann: Ja, grundsätzlich kann man rausgehen aus dem Beruf und man hat auch wieder ein Rückkehrrecht in den Beruf, aber das kann noch verbessert werden. Wir sagen auch: Wenn man sich einsetzt für den Pflegenden, da muss es auch so was geben wie ein Elterngeld. Das ist ja unumstritten, das Elterngeld. Wenn Sie Kinder erziehen, sollte da auch im Pflegefall etwas Ähnliches eingeführt werden. Und wenn Sie eine Zeit lang über Jahre, Jahrzehnte zu Hause sind, dann muss das auch auf die Rente angerechnet werden. Also die Rentenpunkte müssen dementsprechend verbessert werden.
Appelmann: Sie sagen gerade eben Elterngeld, dass man also sagt, ich möchte meine Angehörigen zwei Jahre pflegen und bekomme dann auch Geld weiter. Das ist momentan nicht der Fall.
Weimann: So ist es, ja, und das ist unsere Hauptforderung. Wir haben eine wirklich taffe Präsidentin die Frau Bentele, die zusammen mit uns im Präsidium das immer wieder darstellt. Das ist eine Forderung. Und wir haben das auch in unseren Umfragen, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene gemerkt, da fehlt es und da muss nachgebessert werden. Und weil Sie es eben gesagt haben: Pflege ist unterbelichtet, auch in der öffentlichen Wahrnehmung. Das ist einfach etwas, was nicht in der Öffentlichkeit so stark in den Fokus gerückt wird. Und Sie haben es ja einen Beitrag gesehen, das sind nicht nur alte Leute, das sind auch jüngere, auch Unfallopfer und Ähnliches. Das ist ein Thema, was in die Gesellschaft wieder hineingegeben werden muss, dass Miteinander neben den politischen Forderungen auch das entsprechende Zueinander das „Nächsten pflegen“ zum Beispiel wieder in den Mittelpunkt stellen.
Appelmann: Deswegen rücken wir das heute auch in unserer Sendung in den Fokus. Herr Weimann, wir haben es gehört, die Informationen fehlen teilweise. Gibt es denn eine zentrale Stelle, wo ich mehr Infos über häusliche Pflege bekommen kann?
Weimann: Ja, es gibt in vielen Bundesländern Pflegestützpunkte. Hier in Rheinland-Pfalz und in Hessen sind die existent, aber sie sind zentral aufgebaut. Die sind bei den Landratsämtern und man hat das, wie in Deutschland so üblich, als gute Verwaltungseinheit aufgebaut, auch hervorragende Kräfte eingesetzt, aber da, wo man es braucht, wo die Informationen erforderlich ist vor Ort, hätte man das auch entsprechend in die Fläche geben können. Das ist eine Forderung, die wir jetzt aufstellen. Wir haben durchaus gute Erfahrungen, auch aus dem Landkreis, aus dem ich komme, im Rheingau-Taunus-Kreis ist der Landrat sehr aufgeschlossen und sagt: „Ja, das ist gut so, wir machen das so, dass wir in die Orte hineingehen und dort Angebote machen“. Und dann erwarten wir uns, dass das, was ich eben als Manko geschildert habe, dass man Informationen kriegt, dass man dann auch diese Informationen für die Hilfsmittel einsetzt und dass man auch dementsprechend dann besser unterstützt wird.
Appelmann: Abschließende Frage: Seit Jahren fehlen Pflegekräfte und zudem wird die Gesellschaft älter. Wie lange kann das noch gut gehen?
Weimann: Das geht gar nicht mehr lange gut. Das ist ohnehin schon ein Notstand, behaupten wir. Bei den hauptamtlichen Pflegekräften fehlt es an gut ausgebildeten Kräften. Das Anwerben von Personen aus dem Ausland hat keinen großen Erfolg gehabt. Und wir sagen auch: Der Pflegeberuf ist ein schöner Beruf. Er muss aber auch als solcher dargestellt werden. Das ist ein Beruf – wir haben viel mit jungen Leuten zu tun. Wenn man das richtig übermittelt und vermittelt und die richtigen Ausstattungen auch im tariflichen Bereich hinbekommt, dann ist das ein toller Beruf. Es gibt viele junge Leute, die sich dort wohlfühlen würden. Aber der wird halt schlechtgeredet und das müssen wir ändern. Deswegen fordern wir auch eine Pflegekampagne, eine Offensive, dass man da vielleicht noch mal mehr Leute damit erreicht, die dann auch in die Pflege hineingehen.
Appelmann: Er wirbt für den Pflegeberuf: Paul Weimann heute bei uns im Studio, Vorsitzender des Sozialverband VdK Hessen Thüringen. Danke schön.
Weimann: Ich bedanke mich. Vielen Dank.