Rettungskräfte schlagen Alarm

Die Rettungskräfte schlagen Alarm. Das Deutsche Rote Kreuz sieht seine Rettungswagen an der Überlastungsgrenze. 450 Einsätze allein in Frankfurt jeden Tag. Das Problem: immer mehr Notrufe, die eigentlich gar keine Notfälle sind. Wir haben zwei Rettungssanitäter bei ihrem täglichen Einsatz begleitet.
Alarm in der Rettungswache Frankfurt Bergen-Enkheim. Für die Sanitäter Julian Heilmann und Katharina Huck beginnt der Einsatz. Mit dem Krankenwagen geht es zum gemeldeten Einsatzort, erste Details bekommen die beiden digital zugeschickt. Die zentrale Leitstelle gibt ihnen aber schon mit auf den Weg: Der Einsatz ist als „nicht dringlich“ eingestuft.
Julian Heilmann, Notfallsanitäter
„Okay, also: einmal Atemprobleme. Dann steht da beim Ehemann: mit Covid und bekanntem Asthma. Da bin ich mal gespannt.“
Patient „mit Covid“, das bedeutet für die beiden Notfallsanitäter: neben den FFP2-Masken auch Schutzfolien überziehen. Aus medizinischen Sicherheitsgründen muss unser Kamerateam draußen bleiben. Ein über 80-jähriger Corona-Infizierter klagt über Schwindel beim Treppensteigen, seine Frau hat aus Angst den Notruf gewählt. Doch schon nach wenigen Minuten Entwarnung: Kein Fieber, keine schwerwiegenden Symptome – Fehlalarm.
Julian Heilmann, Notfallsanitäter
„Aber er hat halt die typischen Sachen wie Erkältungs- und Grippesymptome und fühlt sich nicht so wohl. Er ist jetzt aber ansonsten stabil. Sie hätte theoretisch ihren Hausarzt kontaktieren können. Wir wissen alle, wie die Lage da ist. Die haben auch viel zu tun, die Wartezimmer sind voll. Aber prinzipiell ist das jetzt eine Behandlung, die ein Hausarzt durchführt.“
Für die beiden Sanitäter heißt es nun: Alle Geräte desinfizieren, ein erstes Protokoll schreiben und dem Patienten übergeben – nach einem letztlich unnötigen Einsatz.
Dann geht es zurück zur Rettungswache. Bei der zentralen Einsatzstelle in Frankfurt gehen jährlich 130.000 Alarmmeldungen ein, Tendenz steigend. Diesen Sommer waren es 600 Einsätze pro Tag – neuer Rekord. Zu oft sind es keine wirklichen Notfälle, das Rote Kreuz stößt an seine Grenzen, um wirklich lebensbedrohliche Situationen anzufahren.
Katharina Huck, Notfallsanitäterin
„Da ist jemand umgeknickt, hat jetzt einen leicht geschwollenen Knöchel und Schmerzen und gibt halt an, dass er nicht mehr gut laufen kann und wir ihn jetzt tragen sollen und ins Krankenhaus bringen. Das ist so ein Fall, wo man dann auch einfach mit Hilfe von anderen gestützt werden kann und dann auch einfach mit einem Privatauto oder auch mit einem Taxi in ein Krankenhaus gebracht werden kann.“
Zurück auf der Wache steht nun erst mal Papierkram an. Der eigentlich unnötige Einsatz muss auch für die Krankenkasse dokumentiert werden. Dann geht es für Katharina Huck und Julian Heilmann schon zum nächsten Einsatz. Ob sie diesmal wirklich gebraucht werden, das werden sie erst vor Ort erfahren.
——————
Markus Appelmann, Moderator: Darüber sprechen wir jetzt mit Benedikt Hart bei uns im Studio, Leiter Rettungsdienst beim DRK in Frankfurt. Guten Abend.
Benedikt Hart, Leiter Rettungsdienst DRK Frankfurt: Guten Abend.
Appelmann: Wir haben es gerade eben gesehen: ein Notfall, der kein Notfall war. Warum ist das so problematisch für Sie?
Hart: Wir sehen eine ansteigende Anzahl an Bagatell-Einsätzen, so nennen wir diese Einsätze. Das führt natürlich dazu, dass Rettungswagen gebunden werden, dass viele Rettungswagen gebunden werden und was schlussendlich dazu führen kann, dass irgendwann nicht mehr ausreichend Rettungsmittel für schwere Unfälle, für schwere Notfälle bereitstehen. Und das gilt es zu verhindern.
Appelmann: Sie sagen also, dass die Menschen überlegen sollen, bevor sie die Notrufnummer anrufen.
Hart. Das ist richtig. Genau. Es gibt Symptomatiken wie leichte Grippesymptome, wie Durchfall, wie Fieber, wie etwas Rückenschmerzen – das sind Dinge, die muss man an der richtigen Versorgungsstruktur ansprechen, das wäre in dem Fall der Hausarzt, außerhalb dieser Öffnungszeiten, die kassenärztliche Bereitschaft.
Appelmann: Aber ganz oft sagen uns die Menschen, dass sie beim Hausarzt gar nicht mehr durchkommen.
Hart: Ich kann die Problematik verstehen. Die Problematik ist vielschichtig, tatsächlich. Das endgültige Ziel kann aber nicht der Rettungsdienst sein. Der Rettungsdienst ist für schwere Notfälle da, der Rettungsdienst für schwere Unfälle da. Dafür brauchen wir ihn auch tagtäglich. Und wenn wir dadurch die Fahrzeuge binden, dann wird es insgesamt irgendwann problematisch werden.
Appelmann: Jetzt haben wir gerade gehört, bis zu 600 Einsätze pro Tag beim DRK Frankfurt und den anderen Rettungsorganisationen, die es gibt, im Sommer zum Beispiel. Warum müssen sie momentan so oft ausrücken?
Hart: Es ist so, dass natürlich … jetzt im Sommer ist natürlich auch immer der Fall, dass es sehr heiß ist. Dadurch steigen Einsätze natürlich an, die hitzebedingt sind. Es steigen aber eben diese Bagatell-Einsätze an, dass die Leute eben den Notruf wählen, weil sie leichte Krankheitssymptome haben, weil sie Beschwerden haben, weil sie beim Hausarzt nicht durchkamen. Und das bindet dann eben diese Ressourcen.
Und schlussendlich hat es dieses Jahr dazu geführt, dass wir eine Spitze an Einsätzen erreicht haben pro Tag.
Appelmann: Jetzt haben wir in Frankfurt noch eine Besonderheit Wir haben das Bahnhofsviertel und da hat uns Notfallsanitäter Julian Heilmann noch auf was Besonderes aufmerksam gemacht. Hören Sie mal zu.
Julian Heilmann, Notfallsanitäter
“Also im Bahnhofsviertel vor allem sind die Erfahrungen, dass es gerade da viele von diesen Einsätzen gibt, wo man irgendwo hingerufen wird, zum Beispiel zu einer bewusstlos gemeldeten Person, die sich dann eben als jemand entpuppt, der vielleicht ein Nickerchen gehalten hat oder seinen Rausch vielleicht sogar ausschläft. Ich würde mir wünschen, dass man zu der Person hingeht und sagt: ‘Guten Tag, hallo.Hören Sie mich? Ich mache mir Sorgen um Sie. Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie vielleicht auch Hilfe?’, bevor man den Notruf wählt.”
Appelmann: Das wäre den Sanitätern also wichtig und deswegen gibt es jetzt auch ein neues Projekt, Herr Hart.
Hart: In Frankfurter wird aktuell mit einer befreundeten Hilfsorganisation der Notfallsanitäter-Erkunder getestet. Das heißt, es fährt jemand voraus, guckt sich den Fall an, Fachpersonal fährt voraus, ein Notfallsanitäter, und entscheidet dann vor Ort, ob ein Transport ins Krankenhaus notwendig ist und würde dann ein entsprechendes Rettungsmittel nach fordern.
Appelmann: Das heißt aber, im schlimmsten Fall geht da wertvolle Zeit auch verloren.
Hart: Die Zeit geht an dieser Stelle nicht verloren. Der Notfallsanitäter-Erkunder ist natürlich entsprechend ausgerüstet, kann alle Maßnahmen vor Ort ergreifen, die ein Rettungswagen auch ergreifen kann, und kann somit dieses Intervall bis die Transport Komponente zur Verfügung steht, locker überbrücken.
Appelmann: Lassen Sie uns noch ganz kurz in die Zukunft blicken. Was muss jetzt passieren, damit diese Überlastung nicht noch weiter zunimmt?
Hart: Wir haben im Rettungsdienst ein großes Thema. Das ist auch das Thema Personal, das trifft viele andere Branchen auch, aber natürlich auch den Rettungsdienst. Und wenn wir immer mehr Rettungswagen brauchen, brauchen wir mehr Personal und da steht erst mal nichts zur Verfügung. Das heißt, wir müssen von diesen hohen Einsatzzahlen, die es aktuell im deutschen Rettungsdienst gibt, runter. Und dazu zählt eben, dass wir die Bagatell-Einsätze vermeiden müssen.
Notfälle müssen nach wie vor natürlich mit dem Rettungsdienst abgearbeitet werden, da gibt es überhaupt keine Diskussion. Aber die Bagatell-Einsätze müssen runter und die Bürgerinnen und Bürger müssen sich mit ihren Erkrankungen an die richtige Versorgungsstruktur wenden. Das müssen wir vermitteln.
Appelmann: Den Notruf nur anrufen bei einem wirklichen Notfall, sagt Benedikt Hart, Leiter Rettungsdienst beim DRK Frankfurt. Danke, dass Sie da waren.
Hart: Gerne.