Mainzer Bischof Peter Kohlgraf zu Gast im Studio

Erfahren, was geschehen ist, verstehen, wie es dazu kommen konnte und vorsorgen, dass so etwas nie wieder passiert. Das ist der Gedanke, der hinter der Missbrauchsstudie des Bistums Mainz steht. Heute hat der Mainzer Bischof Kohlgraf sich erstmals zu den erschreckenden Taten geäußert.

„Mein Leben wurde zerstört als ich sechs Jahre alt war. Das ist kein Leben – es ist ein Überleben!“
„Die Wunden, die Scham und das Gefühl der absoluten Hilflosigkeit wirken bis heute (…)“
„Die Folgen: Keine Berufsausbildung, Prostitution, Hilfsarbeitertätigkeit, Arbeitslosigkeit. Ich bin heute 70 Jahre alt und ich wäre froh nie geboren worden zu sein.“
1.127 Seiten, die erschrecken, die sexualisierte Gewalt im Bistum Mainz seit den 40er Jahren anhand von Gesprächen dokumentieren. Über 600 Betroffene und fast 400 Beschuldigte, der Großteil Kirchenmänner.
Das Bistum habe durch unangemessenen Umgang und mangelnde Kontrolle in vielen Fällen sexuellen Missbrauch begünstigt, sagen die Studienautoren.
Ulrich Weber, Auto Missbrauchsstudie Bistum Mainz, am 03.03.23
„72 % der Betroffenen müssen mehrfache Übergriffe erleiden, die Altersspanne der Betroffenen liegt zwischen drei Jahren und 62 Jahren. Häufige Tatsituationen sind im Rahmen von Freizeit- und Reiseaktivitäten sowie im Pfarrhaus und privaten Kontext“
Die Hälfte der Betroffenen wurden Opfer einer schweren oder besonders schweren Straftat. Viele davon begangen unter der Amtszeit von Kardinal Volk, bis heute Ehrenbürger der Stadt Mainz.
Auch sein Nachfolger, der in der Öffentlichkeit beliebte Kardinal Lehmann habe sich Betroffenen gegenüber mit Härte abgegrenzt und seiner Verantwortung nicht gestellt, nach außen hin jedoch ein ganz anderes Bild gezeigt. Denkmäler die bröckeln.
Stephanie Rieth, Ordinariatsdirektorin
„Die Überhöhung von Menschen hat wesentlich dazu beigetragen, dass Missbrauch in diesem Ausmaß möglich war.
Betroffene wie Jürgen Herold beklagen ein immer noch großes Dunkelfeld.
Jürgen Herold, Betroffener und Mitglied Unabhängige Aufarbeitungskommission
„Eines der Themen ist, dass es nur Unterlagen, die im Bistum verfügbar sind, gab und Gespräche die mit Weber / Baumeister geführt wurden, gibt, aber keine aktive Suche nach weiteren Betroffen, die sich dazu äußern. Das ist das eine. Und das andere ist: Wie konnte dieses System so funktionieren? Heute sind noch Leute in leitenden Positionen, von denen wir schon wissen möchten als Betroffene, was haben die da für eine Rolle gespielt?“
Die Aufarbeitung der Verbrechen bleibt eine Dauerbaustelle, dafür sind die 1.127 Seiten ein wichtiger Schritt. Für ihre Lektüre musste sich auch Bischof Kohlgraf erst mal Zeit nehmen.
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Markus Appelmann, Moderator: Und jetzt ist er bei uns im Studio, der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf. Einen schönen guten Abend.
Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz: Guten Abend.
Appelmann: Wir haben gerade eben die Aussagen von Betroffenen gehört. Sie haben Hunderte Seiten gelesen, haben Sie gesagt. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Kohlgraf: 1.100 Seiten, sehr intensive Seiten. Es gibt Seiten, die waren mir nicht ganz fremd, wo es um die systemischen Fragen geht, aber die sehr konkreten Schilderungen von Betroffenen, auch Aussagen über die Beschuldigten und Täter, das ist mir schon wirklich an die Nieren gegangen.
Appelmann: Sie sprechen dabei nicht von einzelnen Skandalen, sondern Sie sprechen von Verbrechen. Heißt das jetzt auch, dass Sie das alles weitergeben an die Staatsanwaltschaft und dass die Täter, die noch leben, zur Rechenschaft gezogen werden?
Kohlgraf: Die Staatsanwaltschaft ist alles gegeben worden. Da ist keine Baustelle mehr offen. Das muss man deutlich sagen. Die Staatsanwaltschaft hat ihre Arbeit gemacht. Wir haben halt das Problem, dass viele Taten verjährt sind und dass für Verstorbene auch die Staatsanwaltschaft nicht mehr sozusagen aktiv wird. Aber die Staatsanwaltschaft hat ihre Arbeit gemacht. Wir haben alle Fälle an die Staatsanwaltschaft gegeben. Was für uns wichtiger ist, sind die Fragen von kirchlichen Disziplinarverfahren, die dann eventuell noch anstehen.
Da sind einige jetzt nachgeholt worden oder werden nachgeholt. Dass sozusagen nach einer staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen dann auch die Kirche natürlich eine Disziplinarmaßnahme ausspricht. Das ist jetzt für einige Priester noch mal das Thema. Ansonsten, was für mich noch mal ganz schlimm war eigentlich bei dieser Studie jetzt auch, also Fälle oder Berichte, Schilderungen von Betroffenen zu lesen, wo ich wirklich sage, das ist auch für den Leser eine echte Zumutung, was da passiert.
Appelmann: Zum ersten Mal wurde auch ganz klar von großen Verfehlungen bei Karl Kardinal Lehmann gesprochen. Sein Motto sei gewesen “Wegschauen und verdrängen”. Müssen Sie sich da jetzt klar abgrenzen von dem Mann, der Sie zum Bischof geweiht hat?
Kohlgraf: Es geht jetzt erst mal darum, aus dieser Studie zu lernen, wie wir anders damit umgehen. Ich glaube, das ist eigentlich die Botschaft. Es geht einerseits natürlich um eine Frage, auch um der Betroffenen willen; Wie haben vergangene Verantwortungsträger gehandelt oder auch nicht gehandelt? Aber entscheidend ist eigentlich, jetzt zu gucken: Was lernen wir daraus für unser Verhalten?
Appelmann: Hat Sie das nicht verwundert? Dieser Mann war so beliebt.
Kohlgraf: Ja. Natürlich hat mich das verwundert. Aber auf der anderen Seite: Dieser Mann hat auch … oder dieser Kardinal wie auch seine Vorgänger hatten auch diese Seite. Es ging um den Schutz der Institution. Es ging um den Schutz auch der Priester möglicherweise. Es ging nicht um die Perspektive der Betroffenen.
Appelmann: “Ein ganzes System hat versagt.” Das sind Ihre Worte. Und es sind auch Taten bei Ihnen passiert. 6,1 %. Was unternehmen Sie jetzt, damit das nie wieder passiert?
Kohlgraf: “Nie wieder passiert” ist immer so eine Sache. Das werden wir nie garantieren können. Aber wir können alle Bedingungen schaffen, damit es klare, transparente Verfahren gibt. Also, wir haben klare Leitlinien jetzt auch in der gesamten Bischofskonferenz, wie Intervention stattfindet. Wir haben im Bistum, glaube ich, jetzt eine sehr gut aufgestellte Interventionsstelle. Das war übrigens auch eine Kritik in der Studie, dass es auch am Anfang meiner Bischofszeit mal organisatorisch ein bisschen gehakt hat. Das lag auch an personeller Besetzung.
Wir sind aber jetzt, glaube ich, eine gut aufgestellte Abteilung. Wir haben auch mit Frau Rieth, der Bevollmächtigten des Generalvikars, glaube ich, eine sehr kompetente Person, die das auch weitertreibt, diese Intervention, diese professionelle Intervention, und natürlich Präventionsmaßnahmen. Wir haben 20.000 Haupt- und Ehrenamtliche bereits jetzt im Bistum Mainz durch Präventionsschulungen geschickt. Wir haben in jeder kirchlichen Einrichtung ein Schutzkonzept, auch für Ferienmaßnahmen usw.
Also ich glaube, dass wir da auch sehr weit sind und dass wir da eine gute Arbeit machen. Trotzdem wird es nie eine letzte Garantie geben, dass es nicht zu Missbrauchsfällen kommt.
Appelmann: Unter dieses Thema setzen wir einen Punkt. Sie bleiben aber bei uns im Studio, denn morgen geht der Synodale Weg in Frankfurt auf die Zielgerade. Dieser Reformprozess der katholischen Kirche, der nicht so richtig vorankommt.
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Es ist ein Bild, das in Erinnerung geblieben sind: Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken kämpft mit den Tränen. Der Grund: Die große Mehrheit der Laien sah Reformbedarf bei der Frage der Sexualmoral, bei der Rolle der Frau in der Kirche, bei der Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften – doch bei den Bischöfen verfehlte das Grundsatzpapier die nötige Zweidrittelmehrheit.
Doch viele Gläubige halten Reformen weiter für bitter nötig. Denn die katholische Kirche kämpft in Deutschland unter anderem mit Kirchenaustritten und Priestermangel. Die Reformer innerhalb der Kirche – sie scheitern immer wieder an den konservativen Kräften in der eigenen Bischofskonferenz, aber auch an Papst Franziskus. Zuletzt hatte der Vatikan die Erneuerungspläne der deutschen Katholiken scharf kritisiert, sieht die Gefahr einer Spaltung der Weltkirche.
Umso spannender wird es deshalb ab morgen in Frankfurt. Dann startet die fünfte und letzte Synodalversammlung. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, zeigt sich zuversichtlich, dass wichtige Beschlüsse gefasst werden können. Er wünscht sich, dass es nicht nochmal zu einem Eklat kommt.
Georg Bätzing, Vorsitzender Deutscher Bischofskonferenz, am 020.3.2023 „Und vor allem wünsche ich nicht, dass wir Bischöfe ein sozusagen Auslöser eines solches Eklats sein könnten. Das möge wirklich Gottes guter Geist verhüten. Aber ich bin kein Hellseher.“
Ab morgen wissen dann alle mehr. Fest steht: Der Blick vieler Katholiken richtet sich wieder nach Frankfurt.
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Markus Appelmann: Und Bischof Peter Kohlgraf, der Mainzer Bischof, wird auch mit dabei sein. Sie gelten eher als Reformer. Wie sehr frustriert Sie das, dass dieser Synodale Weg nicht so richtig vorankommt?
Kohlgraf: Also wir haben, glaube ich, schon viele gute Themen auf den Weg gebracht. Es gibt, glaube ich, jetzt im Moment ein Thema, wo wirklich auch massiver Widerstand sozusagen aus Rom gekommen ist. Das war auch beim sogenannten Ad-limina-Besuch in Rom ein Thema, nämlich die Frage: Wie geht das Thema Synodalität – also die Gemeinsamkeit von Bischöfen, Klerikern, anderen Gläubigen, wie geht diese Gemeinsamkeit weiter? Das braucht eine Verstetigung.
Was wir jetzt in Frankfurt erleben, das sind erste Schritte. Und da gibt es sehr, sehr unterschiedliche Vorstellungen, wie das funktionieren kann, was die Rolle des Bischofs dabei ist. Die Angst in Rom ist, dass eine Verstetigung, so wie wir uns das jetzt vorgestellt haben beim Synodalen Weg, dass das eventuell eine Schwächung des Bischofsamtes ist. Ich sehe diese Gefahr, ehrlich gesagt, nicht.
Mir hilft es als Bischof, wenn ich gemeinsam mit anderen entscheide und berate. Aber da, glaube ich, braucht es auch wirklich ernsthafte Gespräche, auch mit Rom.
Appelmann: Ein großes Thema ist ja, dass auch Frauen Priesterinnen werden sollen. Glauben Sie, dass das weiter in diesem Abschlusspapier drinstehen wird? Oder anders gefragt: Glauben Sie, dass Sie es erleben, dass eine Frau in der katholischen Kirche zur Priesterin geweiht wird?
Kohlgraf: Also das Papier, der Grundlagentext, ist ja positiv beschlossen worden in dem Sinne, dass wir sagen, wir stellen keine Forderungen im eigentlichen Sinn, aber wir wollen, dass dieser Text oder auch die theologischen Gedanken, die da drinstehen, eingehen auch in die Weltsynode, die Papst Franziskus ausgerufen hat. Das heißt, wir wollen unsere Argumente in die Weltsynode einspeisen. Aber zu dem Teil Ihrer Frage, ob das jetzt bald passieren wird – ich hatte jetzt ein großes Interview mit der Professorin Sattler, die sich auch sehr stark macht für dieses Thema, die auch in diesem Forum drin war. Wir beide teilen eigentlich die Meinung, dass zeitnah da wahrscheinlich oder eher nichts passiert.
Appelmann: Okay, so ehrlich sind Sie. Wenn dieser Synodale Weg jetzt nicht richtig an Fahrt aufnimmt, ist das dann noch Ihre katholische Kirche?
Kohlgraf: Ich trage Verantwortung für dieses Bistum und ich tue im Rahmen dessen alles, was möglich ist, dieses Bistum und auch die Menschen im Bistum zusammenzuhalten. Die Themen des Synodalen Wegs sind wichtige Themen und wir können vieles von dem, was auch beim Synodalen Weg eine Rolle spielt, dieses Miteinander der Gläubigen, auch mit dem Bischof- ich glaube, da können wir auch Wege finden, wo der Synodale Weg Vorschläge macht, aber wo wir im Bistum Mainz ja auch nicht beim Punkt null sind.
Appelmann: … sagte der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf. Danke für Ihren Besuch im Studio.
Kohlgraf: Danke auch.