Mahnmal für Missbrauchsopfer an der Odenwaldschule

Die Odenwaldschule galt über Jahrzehnte als Leuchtturm der Reformpädagogik – ein Vorzeige-Internat. Doch heute steht die Odenwaldschule hauptsächlich für jahrelangen, flächendeckenden Missbrauch von Schülern. Die Täter: Ihre Lehrer, mit denen sie in einer Art Familienverbund zusammenlebten. Seit fast zehn Jahren ist die Schule geschlossen. Doch die Geschehnisse sollen nicht in Vergessenheit geraten. Heute wurde vor Ort ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer eingeweiht.

Idyllischer als hier in Ober-Hambach bei Heppenheim kann eine Schule kaum liegen. Doch diese Idylle, sie war jahrelang trügerisch. Das weiß auch Adrian Koerfer. Der mittlerweile 69-Jährige war von 1968 bis 1975 Schüler hier im Internat. Auch er wurde hier sexuell missbraucht.
Seit heute erinnert dieses Mahnmal an die vielen Missbrauchsopfer dieser Schule. Entworfen hat es Adrian Koerfer selbst. Ein Symbol für ein geschlossenes System..
Adrian Koerfer, Missbrauchsopfer
„Und alle System, die sich mit Missbrauch beschäftigen, sind geschlossene Systeme. Sei das in der katholischen Kirche oder in der evangelischen, sei es im Sportverein oder in Familien. Es sind alles geschlossene Systeme. So war das hier an der Odenwaldschule auch. Und das Mahnmal besteht auch aus drei übergroßen Türblättern an deren oberen Ende sich übergroße Türgriffe befinden, die aber unerreichbar sind für alle.“
Es gibt also kein Entkommen, für niemanden. Jahrelang hat Adrian Koerfer für dieses Mahnmal gekämpft.
Ende der 90er Jahre kommen erste Missbrauchsvorwürfe gegen einen Lehrer der Odenwaldschule auf. Lange passiert nichts. Erst 2010 setzt eine öffentliche Diskussion und Aufarbeitung ein. Auch Adrian Koerfer geht an die Öffentlichkeit.
Doch die Aufarbeitung läuft schleppend. Immer wieder wird die Schulleitung ausgetauscht. 2014 gerät die Schule erneut in die Schlagzeilen. Gegen einen Lehrer wird wegen Besitzes von Kinderpornographie ermittelt. Ein Jahr später muss die Schule Insolvenz anmelden. Zu stark sind die Schülerzahlen gesunken. Der Schulbetrieb wird eingestellt.
Ob Jugendämter oder Schulaufsicht – es waren auch die Behörden, die hier ihrer Fürsorgepflicht nicht nachgekommen sind. Dass dieses Mahnmal nun von Stadt, Landkreis und Land GEMEINSAM ins Leben gerufen wurde – das sei auch ein Eingeständnis des eigenen Versagens.
Matthias Wilkens (CDU), Landrat Kreis Bergstraße 2003-2015
„Wenn man die Aufarbeitung der beiden Juristen sich zu Hand nimmt, dann kann man sehen, dass alleine sich elf Schüler aufgrund dieser Tat das Leben genommen haben. Menschen, die eigentlich auf eine Schule gehen, um sich auf das Leben vorzubereiten, die anschließend freiwillig aus dem Leben scheiden. Ich glaube, mehr braucht man nicht zu sagen über die Katastrophe, die hier stattgefunden hat. Und die Notwendigkeit, dass die öffentliche Hand hier auch Flagge zeigen muss, im Sinne von Verantwortung zu übernommen, dafür dass man hier versagt hat.“
2020 werden Studien der Universitäten Rostock und München veröffentlicht. Der Inhalt: Rund 25 Lehrkräfte und andere Mitarbeiter der Schule sollen in den 60ern, 70ern und 80ern an hunderten Verbrechen an Schülern beteiligt gewesen sein. Neben dem früheren Schulleiter Gerold Becker soll es mindestens vier weitere Haupttäter gegeben haben.
Ein System sexueller Gewalt – mittlerweile gäbe es zwar mehr Schutzkonzepte an Schulen und Kitas, sagt Kerstin Claus, die Bundesregierung für Kindesmissbrauch – trotzdem: Claus macht auch klar: Es müsse sich noch einiges ändern.
Kerstin Claus, Unabhängige Beauftragte für Fragen des Kindesmissbrauch
„Es fehlt an Qualifikation bei den Fachkräften. Nach wie bevor ist ein Modul Kinderschutz im Bereich der sozialen Arbeit nicht vorgeschrieben genauso wie in andern Berufen. Das heißt, wir brauchen noch viel mehr Professionalität in der Fläche, wenn wir künftig Kinder besser schützen wollen.“
Wo genau das Mahnmal stehen soll, darüber gab es im Vorfeld Diskussionen. Einige der Opfer sagen, hier würden es zu wenige Leute sehen. Denn mittlerweile wurde das Gelände an einen privaten Investor verkauft. Im früheren Hauptgebäude des Internats wird jetzt ein Hotel eingerichtet. Genau hier solle das Mahnmal jetzt an die Geschichte dieses Ortes erinnern, sagt Adrian Koerfer.
Adrian Koerfer, Missbrauchsopfer
„Ich kann jetzt beruhigter in die Zukunft blicken, weil ich jetzt weiß, an diesem Mahnmal kommt niemand vorbei, der hier diesen Ort besucht. Und dieses Mahnmal erinnert an die über 1.000 Opfer, an die über 4.000 bis 5.000 Taten, die hier stattgefunden haben.“
Taten, die auch mit Hilfe dieses Mahnmals in Erinnerung bleiben werden. Taten mit denen auch Adrian Koerfer niemals abschließen kann.