Im Studio: Albrecht Bähr, Vorsitzender der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege

Obdachlos sein – die wenigsten Menschen können sich vorstellen, dass es sie jemals treffen könnte. Und doch passiert es immer wieder: Schicksalsschläge, Schulden, Erkrankungen – plötzlich kann man die Miete nicht mehr zahlen, landet auf der Straße – und oft haben die Menschen dann auch keine Kraft mehr, sich selbst wieder aus dieser Lage zu befreien. Rund 14.000 Menschen sind in Rheinland-Pfalz aktuell ohne Obdach. Wir waren in einer Einrichtung in Mainz, in denen Wohnungslose eine Bleibe finden können – und vor allem auch Beratung.

Winfried Dötsch„Mein Name ist Winfried Dötsch, ich bin am 25.02.1961 geboren und habe zurzeit ein Zimmer im Egli-Haus.“
Im Heinrich-Egli-Haus in Mainz, das Andreas Geiger leitet. In dem Wohnheim finden obdachlose Männer eine Unterkunft. Winfried Dötsch lebt seit acht Jahren hier.
Winfried Dötsch, Bewohner Heinrich-Egli-Haus
„Meine Geschichte war, dass ich obdachlos geworden bin, weil die Wohnung einfach zu teuer geworden ist und ich nicht mehr bezahlen kann, und ich bin dankbar, dass es die Diakonie von Darmstadt, dass es das Egli-Haus auch in Mainz gibt. Da kriege ich sehr toll geholfen.“
Hilfe, die weit über die reine Unterkunft hinausgeht – Hilfe, die bitter nötig ist, sagt Geiger. Modellprojekte des Landes wie „Housing First“, bei denen es darum geht, Obdachlose in Wohnungen zu vermitteln, lösen nur ein Teil der Probleme. Denn meistens gehen der Obdachlosigkeit Probleme voraus: Psychische Erkrankungen, Schulden, Drogen.
Andreas Geiger, Leiter Heinrich Egli Haus
„Ich denke, es ist ein gewisser Irrglaube, zu glauben, dass man Menschen nur eine Wohnung geben muss und dann blühen sie auf. Wir haben ein immer größeren Anteil an Menschen in der Gesellschaft, die einen größeren Betreuungsbedarf haben, die Unterstützung und Zuwendung brauchen.“
Psychosoziale Hilfe, die Mitarbeiter des Hauses leisten – wie Therapieplätze suchen und Behördengänge erledigen. Für Betroffene ist das oft ein Kraftakt, auch weil die Hürden für Hilfe hoch sind. So könne man sich in Mainz nur online obdachlos melden.
Andreas Geiger, Leiter Heinrich Egli Haus
„Das überfordert halt schon viele. Wenn Sie sich jetzt vorstellen, Sie sind obdachlos geworden und müssen dann mit ihrem Handy, wenn Sie noch genug Saft auf dem Handy haben, erstmal ein Online-Termin machen, um sich obdachlos zu melden, und Leistungen zu erhalten.“
Geiger kritisiert auch: In allen Bundesländern, außer in Rheinland-Pfalz, gibt es Rahmenverträge zwischen den Ländern und den Wohlfahrtsverbänden wie der Diakonie und der Arbeiterwohlfahrt. Sie regeln klar: Wie viel Geld erhalten Einrichtungen für ihre Leistungen. Geiger erhofft sich von so einem Vertrag unter anderem: mehr Geld, und mehr Personal
Dann könnte sein Team noch besser dabei helfen, Menschen wie Winfried aus ihrer Situation zu befreien. Immerhin: Winfried hat schon einen Job. Dreimal die Woche arbeitet er auf dem Mainzer Wochenmarkt; hat mit Außenministerin Annalena Baerbock schon prominente Kundschaft bedient.
Winfried Dötsch, Bewohner Heinrich-Egli-Haus
„Die war ja so cool. Die ist dann an den Stand und hat mich begrüßt und da bin ich gefragt worden ‚Was habt ihr da?‘, da habe ich gesagt ‚Wir haben Säfte, auch Gemüse‘, da ist sie ein Schritt weiter und ist zurückgekommen; ‚Eigentlich könnte ich ja bei Ihnen einen schönen Saft trinken, nur kein Gemüse.‘ Und da habe ich ihr den Wunsch erfüllt.“
Wünsche für sich hat Winfried nicht viele. Wünsche hat er vor allem für die rund 14.000 Menschen in Rheinland-Pfalz, die keine eigene Wohnung haben.
Winfried Dötsch, Bewohner Heinrich-Egli-Haus
„Ich möchte irgendwann wieder ein Zimmer draußen haben. Und dann möchte ich einfach, dass die, die sich helfen lassen wollen, sollen sich helfen lassen, dass die auch wieder mal ein Dach über den Kopf bekommen wieder und wieder nach vorne gucken.“

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Eva Dieterle, Moderatorin:
Ja, ein ganz wichtiger Wunsch. Und über dieses Thema spreche ich jetzt mit dem neuen Vorsitzenden der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege, mit Albrecht Bär. Schön, dass Sie hier sind. Guten Abend.
Albrecht Bähr, Vorsitzender der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege:
Einen schönen guten Abend.
Dieterle:
Ein ganz wichtiges Projekt, das wir da gerade in Mainz gesehen haben. Und ich gehe mal davon aus, Sie würden sich wünschen, dass es solche Angebote noch sehr viel häufiger gäbe, oder?
Bähr:
Selbstverständlich. Also, der Mann hat Glück und es ist auch eine wunderbare Arbeit, die dort gemacht wird. Aber wir haben 14.000 Wohnungslose, steigende Tendenz, und auch viele, die wir nicht erfasst haben. Von daher bräuchten wir viel mehr solcher Einrichtungen. Das Land macht in seinem “Housing First”.Projekt einiges dafür, aber es ist natürlich im Blick auf die Anzahl der Menschen viel zu gering und ein Riesenproblem: Wir kriegen keine Wohnungen vermietet, der Wohnungsmarkt ist leergefegt, der soziale dümpelt herum. Von daher: Ja, ein großer Wunsch. Und dafür steht aber auch die LIGA, dass solche Menschen nicht verlorengehen.
Dieterle:
Ich habe es gerade gesagt, Sie sind jetzt der neue Vorsitzende. Welche thematischen Schwerpunkte haben Sie sich für die nächsten zwei Jahre vorgenommen?
Bähr:
Also es gibt so einen Überbau, der ganz wichtig ist, um die wirklichen Probleme zu lösen. Wir brauchen eine stimmige Gesprächskultur, keine Kultur der Verdächtigung unter Kommunen, Land und Trägern, sondern wir haben eigentlich alle das Potenzial, etwas Gutes hinzubekommen. Und das muss sich verbessern. Das ist zurzeit nicht besonders gut im Blick auf die Rahmenverträge für die Kitas oder die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes. Das ist das Erste. Das Zweite: Es muss uns bewusst sein, dass wir als die Kräfte, die in einer Demokratie dafür eingesetzt sind, dass das soziale Miteinander funktioniert, auch das Thema Demokratiefestigkeit ernst nehmen, um Lösungen für Bürgerinnen und Bürger zu finden, die sich immer als “die Verlorenen” empfinden und daher auch sehr schnell in rechts abdriften. Wenn wir das geschafft haben, neben einer angemessenen Finanzierung, die ja auch eine Form von Prophylaxe ist, damit es nicht noch teurer ist, dann müssen wir an die großen Themen ran. Und es wäre zum Beispiel die Armut in Rheinland Pfalz, das ist die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes, das ist das Kindertagesstättengesetz und vieles andere mehr.
Dieterle:
Viele große und wichtige Themen. Da ist viel zu tun. Es hat vor kurzem ja auch eine Aktionswoche gegeben. “Einsatz zeigen, wertschätzen” war der Titel. Es ging um mehr Wertschätzung für die mindestens 250.000 Menschen, die sich haupt- und ehrenamtlich in den Wohlfahrtsverbänden engagieren. Was hat das gebracht? Wie war da das Feedback?
Bähr:
Also es war zunächst mal eine wunderbare Aktion und von den Betroffenen vor Ort in den Einrichtungen als auch von den Bewohner:innen in den Einrichtungen richtig gehypt am Ende. Die fanden sich wirklich wertgeschätzt. Und ohne jetzt den Minister:innen und Staatssekretär:innen zu nahe treten zu wollen und dem Ministerpräsidenten: Auch für sie war es noch einmal ein besonderes Erlebnis zu sehen, wie mit relativ wenigen Mitteln viel geleistet werden kann, dass sich die Bürger und Bürgerinnen wertgeschätzt fühlen, in ihrer Würde ernst genommen werden und was vor Ort in Kombination mit Hauptamt, aber auch mit Ehrenamt möglich ist. Und dass das der Kitt der Gesellschaft ist, der uns auch nach vorne bringt.
Dieterle:
Werfen wir einen Blick nach vorne. Wie ist es denn um die Zukunft der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege bestellt? Was brauchen Sie, was fordern sie?
Bähr:
Also zunächst einmal glaube ich, ohne die LIGA der freien Wohlfahrtspflege hätten wir viele Probleme überhaupt nicht gelöst. Ich erinnere an die Katastrophe im Ahrtal. Da waren wir da. Ich erinnere an Corona, da waren wir da, in der Pflege, in der Versorgung von Menschen. Wir brauchen eine Rechts- und Planungssicherheit. Also die freie Wohlfahrtspflege ist ja gemeinnützig orientiert, im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips auch notwendig, um Beratung vielfältig anzubieten. Das muss gesichert werden und das muss auch durch das Land und durch die Kommune gesichert werden. Das ist zunächst einmal eine der wichtigsten Punkte. Dann brauchen wir ein gutes Miteinander. Denn es geht ja nicht um uns als Wohlfahrtsverband. Es geht aber auch nicht der Kommunen um Selbstzweck oder dem Land, sondern unsere Aufgabe ist ja, das soziale Miteinander in Rheinland-Pfalz zu fördern. Und hier müssen wir ganz eng kooperieren. Und das ist wird eine der größten Herausforderungen sein, weil uns der Wind entgegen weht. Also wir haben diese Bürgergeld-Debatte, die unsäglich ist und das weiß jeder, weil unter Bürgergeld-Empfänger:innen Aufstocker sind, alleinerziehende Mütter, psychisch Kranke. Wir haben diese wirklich manchmal entwürdigende und jetzt gerade hier aktuelle Migrationsdebatte, als ob alle Migrantinnen und Migranten eine Gefahr wären. Was würde unser Land machen, ohne Menschen mit anderem Kulturhintergrund? Unser System würde zusammenbrechen. Auch da brauchen wir eine ehrliche Debatte. Ehrlich sein, die Probleme artikulieren und auch im Blick auf die Kosten sich klar machen: Was brauchen wir und wie kriegen wir das geregelt?
Dieterle:
Also vor der Bundestagswahl auch von Ihnen noch mal der Appell, sauber zu differenzieren.
Bähr:
Ja, es ist ein strukturelles Problem, wenn es der Wirtschaft nicht gut geht und nicht das Problem der Migrantinnen und Migranten. Ich will nicht sagen, dass es nicht eine Herausforderung ist – es ist eine große Herausforderung. Aber wir können doch die nicht verantwortlich machen, die Bürgergeld-Empfänger:innen oder die Migranten, dass es in unserer Wirtschaft nicht rund läuft.
Dieterle:
… sagt Albrecht Bähr, der Vorsitzende der LIGA der Freien Wohlfahrtspflege. Vielen Dank für das Interview.
Bähr:
Sehr gerne.