Im Interview: Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer
Die Zeit zwischen den Jahren ist wie gemacht, um mit etwas Abstand auf das Jahr zurückzublicken. Ein zweites Jahr, das durch die Corona Krise geprägt wurde. Die Welt ist aus dem Takt geraten. Was macht Politik da? Sie fährt auf Sicht. Aber wohin? Sicherlich ist diese Zeit für Politiker keine einfache. Unter anderem darüber sprechen wir mit Malu Dreyer, der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin.
Markus Appelmann: Wir haben so kurz vor dem Jahreswechsel die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz heute zu Gast. Malu Dreyer. Herzlich willkommen! Schön, dass Sie da sind.
Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz: Ich grüße Sie, Herr Appelmann.
Markus Appelmann: Frau Dreyer, bevor wir zu den Themen kommen, gab es ein Jahr in Ihrem politischen Leben, dass Sie mehr gefordert hat als dieses Jahr 2021.
Malu Dreyer: Nein, das war mit Sicherheit das herausfordernde Jahr, was ich in der Politik erlebt habe. Und ich habe schon sehr, sehr viel erlebt, muss man sagen. Aber natürlich die Pandemie, die uns ja alle wirklich im Atem hält, dann die schreckliche Naturkatastrophe. Dann war es auch ein Jahr, wo wir dann natürlich auch zweimal im Wahlkampf waren. Also es war ein extrem anstrengendes Jahr, aber es war auch ein schweres Jahr.
Markus Appelmann: Stimmen Sie zu, dass die Herausforderungen – Sie haben sie gerade eben genannt – wie Pandemien und Naturkatastrophen nicht durch Koalitionsverträge erfasst werden können. Dass also hier politische Führung mit den Aufgaben wächst oder scheitert.
Malu Dreyer: Ja, das gilt sehr, sehr grundsätzlich. Man kann ja auch weiter zurückblicken, als die vielen Flüchtlinge zu uns kamen. Es gibt immer wieder Herausforderungen, die kann man nicht in einem Koalitionsvertrag festlegen, sondern sie sind einfach nicht vorhersehbar. Und deshalb ist es so wichtig, dass man vertrauensvoll miteinander zusammenarbeitet, um eben auch aktuelle Krisen gut miteinander bewältigen zu können. Neben den vielen Zielen, die man sich auch im Koalitionsvertrag vorgenommen hat.
Markus Appelmann: Frau Dreyer, lassen Sie uns direkt auf die erste Herausforderung, die wir schon angesprochen haben, kommen. Die sicherlich in der Geschichte der Bundesrepublik ihresgleichen sucht. Die Flutkatastrophe an der Ahr:
Die Nacht vom 14. auf den 15. Juli. Es ist die Nacht, in der im Ahrtal die Welt buchstäblich untergeht. Und es ist die Nacht, die das Leben tausender Menschen für immer verändert. Die Dimension der Zerstörung – unvorstellbar.
Andrea Kirsch, Einwohnerin von Kordel: „Das Wasser war in minutenschnelle da und die Sachen sind rausgeschwemmt worden aus der Straße. Tische, Bänke, alles. Und man ist machtlos, man kann nichts machen.“
Ernst Hoffmann, Einwohnerin von Schuld: „Es ist alles kaputt, weggeschwommen, Fenster rausgerissen. So eine Macht hatte das Wasser.“
Jan Lingen, Winzer aus Bad-Neuenahr-Ahrweiler: „Es stand wirklich bis hier oben unter die Decke, es war Wahnsinn – wie eine Apokalypse.“
Jacqueline Dünker, Einwohnerin von Heppingen: „Es war ganz, ganz schlimm. Diese Hilfeschreie zu hören und noch viel schlimmer war eigentlich, dass man sie irgendwann nicht mehr gehört hat.“
In Sinzig sterben 12 Bewohner einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung – sie können sich nicht mehr rechtzeitig vor der Wucht der Flutwelle retten.
Uli Martin, Einwohner von Sinzig: „Es ist das erste Mal, dass ich nicht heulen muss, wenn ich danach gefragt werde. Es ist schon furchtbar und relativiert natürlich alles andere. Also wir haben viel verloren, aber das ist angesichts dessen irgendwie wieder regelbar. Aber Menschenleben nicht – die sind verloren.“
Insgesamt verlieren alleine in Rheinland-Pfalz 134 Menschen ihr Leben. Die Behörden gehen im Ahrtal von rund 42.000 Betroffenen aus. 3.000 Gebäude werden zerstört, darunter auch viele Krankenhäuser und Schulen.
Malu Dreyer (SPD), Ministerpräsidentin Rheinland-Pfalz: „Rheinland-Pfalz hat eine Katastrophe dieser Art noch nie erlebt. Das ist eine Naturgewalt, die wir hier erlebt haben, die uns alle sprachlos macht.“
Doch so groß die Tragödie ist, so groß ist auch die Hilfsbereitschaft. Freiwillige aus ganz Deutschland kommen ins Ahrtal, um Schutt abzutransportieren, um Essen auszuteilen und um beim Wiederaufbau zu helfen. Trotzdem: Monate nach der Katastrophe zeigt sich: Es wird noch sehr lange dauern bis das Ahrtal wieder so aussieht wie vor der Flut. Und dann sind da natürlich noch die psychischen Belastungen der Überlebenden, mit denen sie noch jahrelang zu kämpfen haben werden.
Die Nacht vom 14. auf den 15. Juli. Die Bilder der Flut, sie haben auch heute – über fünf Monate nach der Katastrophe – nichts von ihrem Schrecken verloren.
Markus Appelmann: Ja, Frau Dreyer, sind es Ereignisse, die einen in den Schlaf hinein begleiten, sitzt man da manchmal abends da und sagt, ich kann nicht mehr? Im Nachgang könnten Sie vielleicht darüber sprechen.
Malu Dreyer: Es geht ja am Ende gar nicht um mich. Aber es sind natürlich dramatische Situationen gewesen. Diese Naturkatastrophe hat, glaube ich, niemand unberührt gelassen, auch nicht mich. Man kann sagen, es hat unser Land im Mark getroffen, auch mich persönlich. Einfach weil so furchtbar viele Menschen verstorben sind, weil so viele ihre Existenz verloren haben und weil es einfach unvorstellbar war, mit welcher Wucht das Wasser wirklich das Leben ganz vieler Menschen verändert hat. Auf der anderen Seite steht, was im Film ja auch gezeigt worden ist, diese wahnsinnige Hilfsbereitschaft von so vielen Menschen. Auch, dass es tatsächlich so funktioniert. Alle helfen, alle packen an. Diese unvorstellbare Summe, 15 Milliarden, die der Bund und die Länder zur Verfügung stellen, um den Menschen vor Ort dann wirklich auch Unterstützung zu leisten. Also wir sehen auch eine überwältigende Art und Weise der Hilfe.
Markus Appelmann: Sie sprechen auch das Positive an. Was war denn die positivste Überraschung? Gab es da eine Begebenheit, die Sie besonders angefasst hat? Sie waren ja oft an der Ahr unterwegs.
Malu Dreyer: Das fällt schwer, nur einen Punkt herauszuholen, denn es gibt einfach wirklich Hilfe an jeder Stelle. Aber auch so Dinge wie, dass der Zug wieder fährt oder die Menschen einfach sagen, wie schön, dass es jetzt in diesem Zug wieder zur Arbeit fahren kann. Oder dass die Hauptgasleitungen in Bad Neuenahr-Ahrweiler wieder funktionierte und einfach ganz viele Energieunternehmen sich zusammengeschlossen haben, um in kürzester Zeit das auch möglich zu machen. Vor kurzem waren wir bei der Eröffnung des Traumahilfe-Zentrums, weil so viele, viele Menschen wirklich traumatisiert sind und auch an der Seele verletzt sind, dass sie die Unterstützung bekommen. Oder bei der Arche, wo wir dann gesehen haben, dass Handwerker von überall her kommen, um einfach zu helfen, dass Heizungen eingebaut werden und Ähnliches. Das ist schon sehr, sehr berührend. Es gibt viele, viele dieser Ereignisse und ich muss einfach sagen: Man ist jedes Mal wieder überwältigt davon, dass die Hilfe auch nicht nachlässt. Natürlich sind es jetzt nicht mehr so viele wie ganz am Anfang, aber es gibt ganz, ganz viele Menschen, die helfen. Und das ist schon auch sehr berührend im positiven Sinne.
Markus Appelmann: Frau Dreyer, wie haben Sie sich in dieser Zeit verändert, wenn Sie sich selbst beobachten, ist da ein bisschen Fröhlichkeit abhanden gekommen? Ist da Zuversicht weggebrochen?
Malu Dreyer: Also was einem die Zuversicht gibt – und ich glaube, das geht den Menschen im Alltag genauso wie mir – das ist das einfach, dass die Hilfe da ist, das ganz viele da sind, die sich solidarisch erklären. Aber man ist nicht unbelastet, auch ich nicht. Das ist einfach so einschneidend und ich glaube, so geht es ganz vielen. Aber was ich mutmachend finde, ist, dass auch die Leute im Ahrtal – vielleicht ist das auch das allerberührenste – dass sie zusammenhalten und dass sie nach vorne blicken und sagen: Wir wollen, dass unser Ahrtal auch wieder so wird, wie es mal war. Ein schönes Tal, wo wir gerne leben, wo die Menschen gerne hinkommen. Und das geht mir auch so, das gibt auch mir immer wieder die Zuversicht zu sagen: Wir müssen nach vorne schauen und wir müssen alles in Bewegung setzen, dass es tatsächlich auch wieder das schöne Ahrtal wird.
Markus Appelmann: Frau Dreyer, Sie sind im Land die ranghöchste Frau. Da kommen ganz viele Menschen auf Sie zu, haben ein Problem, laden es bei Ihnen ab und Sie müssen eine Lösung finden, wenn Sie Sorgen und Nöte haben. Wenn Sie so ein Problem haben, wer ist da Ihre erste Ansprechperson?
Malu Dreyer: Das ist natürlich meine Familie, das ist ja vollkommen klar. Also ohne den Rückhalt meines Mannes, meiner Familie wären auch so schwere Jahre eigentlich gar nicht gut zu bewältigen. Aber ich habe auch ein tolles Team. Ich habe wahnsinnig tolle Mitarbeiter. Wenn sie schauen, was in diesem Jahr geleistet worden ist. Auch auf dieser Ebene. Überall waren die Beamten und Beamtinnen, die Angestellten des öffentlichen Dienstes, die angepackt haben, die nicht auf Überstunden geschaut haben, die einfach auch funktionieren und sagen: Es geht uns alle an, wir müssen alle anpacken. Und das ist natürlich auch für eine Ministerpräsidentin wirklich sehr, sehr schön zu wissen.
Markus Appelmann: Frau Dreyer, kommen wir zur zweiten Krise, die im letzten Jahr begann und deren Ende heute nicht absehbar ist die Corona-Pandemie. Immer wieder gibt es kleine Lichtblicke und dann hat man das Gefühl, wir stehen doch wieder ganz am Anfang:
Im Dezember steht die Politik vor dem gleichen Problem wie im Januar: Zu wenig Impfstoff. Lief die Impfkampagne zu Beginn des Jahres schon nur schleppend an, so erklärt der Gesundheitsminister kurz vor Weihnachten, er benötige massiv mehr Impfstoff, um die Bestellungen der Ärzte für das kommende Quartal erfüllen zu können. Ein Symptom dafür, dass die Politik beim Thema Corona nach wie vor den Ereignissen hinterherläuft. Dabei hatte das Jahr doch so optimistisch begonnen- mit einer klaren Aussage des Chefs des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler:
Lothar Wieler, Präsident Robert Koch-Institut, am 14.01.2021: „Am Ende dieses Jahres werden wir diese Pandemie kontrolliert haben, meine Damen und Herren.“
Wie schon 2020, so war auch 2021 geprägt von Krisensitzungen und Verordnungen, von Lockdowns und Regelwirrwarr. Doch trotz aller – oft teuren – Anstrengungen, hat uns die Pandemie nach wie vor im Griff. Obwohl mehr als zwei Drittel der Menschen in Deutschland bereits geimpft wurden, sind die Intensivstationen am Limit, in manchen Regionen sogar darüber hinaus. Und mitten in den Start der Kampagne für Booster-Impfungen kommt die Nachricht von der hochansteckenden Omikron-Variante, gegen die die Impfung offenbar nur schwächer schützt. Ein Grund für die Situation: Die Zahl der Menschen, die sich nicht impfen lassen, ist zu groß. Daher sieht sich die Politik zu einem Schritt gezwungen, den sie immer vehement ausgeschlossen hatte – eine Impfpflicht für Mitarbeiter von Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen.
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister, am 09.12.2021: „Eine solche Impfpflicht ist notwendig; denn am Ende des zweiten Jahres der Pandemie ist es in keiner Weise akzeptabel, dass in Einrichtungen, wo Menschen leben, die sich unserem Schutz anvertraut haben, noch unnötigerweise Menschen sterben, weil Ungeimpfte dort gearbeitet haben.
Und das ist möglicherweise nur ein Vorbote für eine allgemeine Impfpflicht. Für die politisch Verantwortlichen wird auch das Jahr 2022 kein Spaziergang.