Im Interview: Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf

Weihnachten liegt hinter uns. Für viele ist es das Fest der Liebe – für viele andere aber auch ein christliches Fest. Denn an Weihnachten feiern die Menschen die Geburt Christi. Auch für unseren heutigen Gast ist es eine ganz besondere Zeit im Jahr – in einem Jahr, das neben Corona für die Kirche noch viele andere Herausforderungen bereit gehalten hat. Darüber sprechen wir mit dem Mainzer Bischof Peter Kohlgraf.

Der altehrwürdige Mainzer Dom: Vor mehr als 1000 Jahren fertiggestellt, hat er viele Epochen der katholischen Kirche erlebt. Im Mittelalter war er eines der wichtigsten Gotteshäuser. Aber gleichzeitig auch ein Ort politischer  Macht. Denn die Mainzer Bischöfe zählten als Reichskanzler zu den höchsten Würdenträgern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation.
Doch die politische Macht der katholischen Kirche ist schon lange Geschichte. Heute ringt sie vielmehr darum, nicht auch noch ihren Einfluss in Glaubensfragen zu verspielen. Ein Abwenden von den Kirchen ist in vielen westlichen Gesellschaften zu beobachten, weltliche Strukturen gewinnen an Bedeutung. Der Missbrauchsskandal beschleunigt diese Tendenzen massiv – die Not der Kirche in unserer Zeit ist ohne Beispiel.
In dieser schwierigen Phase wird vor vier Jahren Peter Kohlgraf zum Bischof von Mainz geweiht. Er folgt auf den langjährigen Kardinal Karl Lehmann.
O-Ton Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz (am 28.08.2017): „Was man spürt ist, man wird klein. Das meine ich jetzt nicht in dem Sinne, dass man irgendwo sich künstlich klein macht, aber man fühlt sich im Grunde wirklich auch demütig vor dem, was da abgeht. Es geht letztlich um jemand anderen. Um Gott selbst und das finde ich, das ist schon eine große Aufgabe für einen Menschen, in seinen Diensten zu sein.“
Der Bischof hat einen klaren Blick auf seine katholische Kirche und ist sich sicher: Diese Kirche wie sie heute ist – diese Kirche  wird sterben. Um zu überleben. Viele Gläubige, so Kohlgraf, erwarten eine geschlechter-gerechte Kirche, die sich auch jenen zuwendet, die nicht ihrem Ideal entsprechen. Das sind auch heute immer noch neue Töne in der katholischen Kirche.
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Eva Dieterle, Moderatorin: Ja, das waren natürlich alte Szenen, die wir da gesehen haben, da wurden noch kräftig Hände geschüttelt. Er will ja eigentlich auch ein Bischof zum Anfassen sein, Bischof Peter Kohlgraf. Ich freue mich, dass Sie heute hier im Studio sind. Herzlich willkommen!
Peter Kohlgraf, Bischof von Mainz: Vielen Dank.
Eva Dieterle: Herr Kohlgraf, wenn Sie diese Bilder sehen, wie sehr fehlt Ihnen das, dieses nah bei den Menschen sein und auch mitten unter ihnen zu sein?
Bischof Kohlgraf: Es ist sehr reduziert, seit fast zwei Jahren jetzt. Das ist für den Bischof – auch für die Ausübung des Bischofsamtes – sehr schwierig, muss ich sagen, weil Kirche auch von Beziehungen und von Gemeinschaft lebt. Und wir haben digital einiges dazugelernt. Aber die Berührung, die Begegnung ist sehr eingeschränkt und das ist schwierig.
Eva Dieterle: Würden Sie sagen, dass Seelsorge, also wirklich die Sorge um die Seele der Menschen, jetzt die wichtigste Aufgabe ist, die die katholische Kirche in diesen Krisenzeiten erfüllen muss? Und kommt sie diesem ausreichend nach?
Bischof Kohlgraf: Es wurde immer wieder gefragt: Wo ist die Kirche in dieser Zeit? Ein bisschen ist die Frage ungerecht, weil wir definieren müssen, was ist Kirche? Das kann nicht nur der Bischof sein, der jetzt gerade mal im Fernsehen ist und zu den Leuten spricht. Ich glaube, dass unsere Kirche sehr präsent ist, aber dass vieles, was wir tun, gerade auch Seelsorge, was Sie ansprechen, natürlich nicht etwas ist, was große Schlagzeilen produziert, sondern das beruht in persönliche Begegnungen, Krankenbesuche. Wir haben die Kitas, wir haben die Schulen, wir haben soziale Einrichtungen. Die Arbeit geht ja weiter – und das ist Kirche. Da sind Menschen sehr präsent, Hauptamtliche und Ehrenamtliche. Aber wir haben auch gemerkt, dass wir in manchen Fragen sehr stark sind, etwa was das Bemühen um Liturgie und Gottesdienst angeht. Aber dass wir so im normalen Miteinander die sozialen Themen auch ein wenig vernachlässigt haben.
Eva Dieterle: Wie würden Sie denn die Verfasstheit der katholischen Kirche aktuell beschreiben? Es ist vielleicht für Sie ein bisschen zu hypothetisch. Ich frage trotzdem mal: Auf einer Skala von 1 bis 10, wenn 1 katastrophal ist und 10 das Beste, würde es Ihnen gelingen, da die katholische Kirche aktuell einzuordnen?
Bischof Kohlgraf: Es ist wahrscheinlich immer die Frage, wen Sie fragen. Jetzt haben Sie mich gefragt. Ich würde mal von dem, wofür Kirche eigentlich da ist, also Sakramente spenden, Seelsorge, auch bei den Menschen sein. Das würde ich relativ hoch ansiedeln. Das Moralische, auch die Glaubwürdigkeit und der öffentliche Auftritt, der ist wahrscheinlich relativ weit unten und das klafft natürlich auch auseinander, finde ich.
Eva Dieterle: Okay, also da differenzieren Sie. Sie haben mit dem Stichwort Glaubwürdigkeit quasi schon zu meiner nächsten Frage übergeleitet. Denn es gibt natürlich ein Thema, ein besonders schweres, das die Kirche unglaublich viel Reputation und auch Glaubwürdigkeit gekostet hat. Und das ist der Kindesmissbrauch und vor allen Dingen auch der kirchliche Umgang damit. Kommt die Kirche da jemals wieder raus? Wenn ja, wie und wie lange wird das dauern?
Bischof Kohlgraf: Das Thema wird mich, glaube ich, in meiner gesamten Zeit als Bischof beschäftigen, weil wir auch nicht nur über ein Thema der Vergangenheit reden. Wir reden auch über ein Thema der Gegenwart. Insofern natürlich immer noch auch Missbrauchstaten geschehen, nicht nur durch Priester. Und wir haben immer noch mit Menschen zu tun, die es betrifft und diesen Menschen gerecht zu werden, das ist die wirklich auch schwierige und herausfordernde Aufgabe. Wir versuchen das. Man muss allerdings auch sagen, es gibt keine vergleichbare Groß-Institution, an der wir uns orientieren könnten. Also wenn immer noch dem Staat oder noch irgendwelchen externen Stellen gerufen wird, die sollen das übernehmen. Auch da gibt es ja wenig Erfahrung in diesem Bereich. Wir haben jetzt wirklich über Jahre Erfahrung gesammelt. Natürlich läuft nicht alles perfekt und es gibt viel Unzufriedenheit. Ich will das auch gar nicht schönreden, aber wir versuchen – ich kann jetzt nur für mein Bistum auch sagen – wir versuchen wirklich, einen guten Weg zu gehen, auch im Miteinander mit den Betroffenen in einer externen Aufarbeitungskommission: In der Zusammenarbeit mit Staatsanwaltschaften, in der Zusammenarbeit auch mit staatlichen Stellen, die uns draufschauen und wo wirklich versucht wird, jedem Einzelnen dann am Ende auch gerecht zu werden. Aber das herauszufinden, was für den einzelnen betroffenen Menschen Befriedung bedeutet, Gerechtigkeit bedeutet, das ist so differenziert und unterschiedlich. Und da ist manche Schlagzeile, die man so liest, dann auch wirklich nicht hilfreich, weil die oft vieles auch nur am Geld festmacht oder an anderen Fragen. Jeder Betroffene, jede Betroffene hat auch einen eigenen Anspruch, eine eigene Bedürftigkeit. Und dem gerecht zu werden, das finde ich, ist die Herausforderung. Aber der stellen wir uns. Und da geht es auch nicht nur um die Reputation der Kirche, sondern es geht wirklich darum: Was braucht der Einzelne, was braucht die Einzelne in ihrer Situation?
Eva Dieterle: Sie haben ja da einen sehr kritischen Blick auf die Sache. Würden Sie sich wünschen, dass das insgesamt von der Institution Kirche auch genau so gesehen wird? Oder haben Sie das Gefühl, das findet jetzt statt, nach der langen Zeit werden die Weichen gestellt? Sie sagen ja gleichzeitig, es passiert immer noch?
Bischof Kohlgraf: Es passiert immer noch. Ich meine, wir können da wirklich nur durch eine gute Prävention, eine klare Intervention reagieren. Dass wird klar haben, wenn ein Fall gemeldet wird, wie gehen wir vor? Und das ist mittlerweile klar. Ich finde auch, dass es ein großer Schritt ist, dass wir für ganz Deutschland, für alle deutschen Diözesen die gleichen Standards haben und dass wir da nicht mehr sagen können, wer im Bistum Limburg sich meldet, wird anders behandelt als im Bistum Mainz. Sondern das sind klare Standards, die formuliert sind. Das muss auch, sage ich mal, eingeübt werden. Und das sind harte Prozesse, auch etwa im Miteinander mit den Betroffenen. Wir haben jetzt etwa im Bistum Mainz zusammen mit Fulda und Limburg einen gemeinsamen betroffenen Beirat. Das muss sich einspielen. Das sind ja Menschen, die aus gutem Grund und mit gutem Recht auch ihre Bedarfe formulieren gegenüber den Bistümern. Und das muss in einem Gespräch bleiben. Und da muss man gut schauen. Also ich bin eigentlich ganz zuversichtlich. Nicht, dass wir irgendwann die Sache abhaken können, das glaube ich nicht, sondern dass wir auf einem guten Weg sind, vielleicht auch Schritte zu gehen, wo andere sagen können: Ja, das könnte auch für unser Feld wichtig sein.
Eva Dieterle: Wir lassen dieses schwere Thema jetzt hinter uns. Bleiben aber nochmal bei der Jugend in der katholischen Kirche. Die Katholische Studierende Jugend, die fordert ja zum Beispiel ein neues Gottesbild. Sie kennzeichnet das Wort Gott auch mit einem Sternchen, das ist ja so der Gender-Stern. Wie offen sind Sie dafür? Ist das für Sie ein wichtiger neuer Impuls oder doch irgendwie ein Irrweg dieses neuen Zeitgeistes?
Bischof Kohlgraf: Also ich war ja mal selber fünf Jahre KSJ-Stadtgruppen-Kaplan in Bonn. Insofern ist mir die KSJ grundsätzlich erst mal eine sympathische Gruppe und ich bin denen noch sehr verbunden. Ich finde es zum einen gut, dass junge Menschen sagen, wir müssen uns auch noch mal Gedanken machen über unsere Gottesbilder, Gottesvorstellungen. Das führt auch noch mal in ein Zentrum hinein. Ich glaube, dass wir über Gott und das, was wir uns eigentlich über Gott vorstellen, viel zu selten reden – auch mit jungen Menschen. Also insofern halte ich das für einen guten Vorstoß. Zum anderen muss ich aber auch sagen, ich kann diesen Gott nicht fassen. Und ich sehe beim Gender-Sternchen so ein bisschen die Gefahr, dass man jetzt meint, mit dem Sternchen haben wir ihn jetzt sozusagen reduziert. Oder wir haben jetzt klar, dass er mehr ist als alle Geschlechter. Gott ist mehr als alle Geschlechterrollen. Aber mit dem Gender-Sternchen kriege ich ihn auch nicht gepackt. Insofern würde ich sagen, ich lass es weg.
Eva Dieterle: Eine interessante Sichtweise. Der Priestermangel ist ein ganz großes Thema in der katholischen Kirche. Entlastungen der Priester lehnt jedoch ja Rom ab. Wie sehr hadert da ein Bischof von Mainz mit der Zentrale in Rom?
Bischof Kohlgraf: Wir müssen jetzt erst mal gucken, glaube ich, wie wir unsere jetzigen Priester entlasten können. Und das geht über Verwaltungsentlastung. Und da sind wir auch im Bistum Mainz relativ intensiv und auch konkret dran. Das ist das eine, weil viele Priester darüber klagen, dass sie eigentlich gar nicht mehr Seelsorger sein können, sondern sich verzetteln in Verwaltungsfragen. Und da ist auch nicht nur der Bischof schuld, dass es so viel Verwaltung gibt, sondern das ist uns auch von staatlicher Seite natürlich irgendwo vorgegeben. Die Finanzsituation, das wird alles irgendwo schwieriger und komplexer. Das betrifft nicht nur die Kirche. Ich glaube, wir müssen jetzt erst mal das machen, was wir machen können, um unsere Pfarrer zu entlasten und damit auch den Pfarrer-Beruf noch mal ein Stück attraktiver zu machen. Ich glaube, dass er attraktiver würde, wenn Menschen merken, ich kann dort wirklich als Seelsorger auch arbeiten. Und man kann es. Ich war selber lange auch in der Seelsorge tätig. Aber man muss schauen, dass man die richtigen Prioritäten setzt. Ich hadere mit der römischen Zentrale nicht, aber wir bleiben im Gespräch. Ich meine auch einer Weltkirche muss klar sein, dass wir am Ende auch hier Lösungen brauchen, die das Priesteramt nicht völlig aus der kirchlichen Wirklichkeit herausbringt. Wir brauchen Menschen und da kann es ganz andere Zugänge geben. Darüber reden wir.
Eva Dieterle: Einer davon ist ja auch der synodale Weg. Der ist ja genau deshalb so spannend, weil da eben Bischöfe und Laien gemeinsam über die katholische Sexualmoral, die Rolle der Frauen in der Kirche reden. Und dieser Weg scheint Rom mächtig zu stören. Auf welches Finale steuert denn das Verhältnis der deutschen Katholiken und der römischen Zentrale zu?
Bischof Kohlgraf: Also ich kenne keinen einzigen Bischof, der ein Akt der Spaltung oder Trennung setzen würde. Ich erlebe auch den synodalen Weg weitestgehend so nicht. Ich bin selber in dem Forum, wo es um die priesterliche Lebensform geht. Und auch da geht es nicht nur darum, wir schaffen jetzt den Zölibat ab und dann scheint die Sonne plötzlich in der katholischen Kirche. Ich glaube, das ist auch sehr einfach gedacht – auch die evangelischen Geschwister stehen vor großen Herausforderungen. Sondern es geht einfach darum, die Themen, die auch auf dem Tisch sind, das muss man sagen, die auch noch mal gemeinsam zu besprechen. Und es wird ein erster Schritt sein, in all diesen Feldern, die sie auch benannt haben, zu gucken: Was kann man jetzt eigentlich schon tun? Was kann man hier tun? Etwa Leitungsaufgaben für Frauen auch in der Kirche – jenseits des Weihamtes? Das ist nur ein Beispiel. Ich glaube, dass sich sowieso viel zu viel an Macht und Gewalt, auch an das Weiheamt gekoppelt hat, etwa an das Bischofsamt. Ich glaube, da könnte man noch viel, viel mehr auch Gewalten tatsächlich teilen, da bin ich fest davon überzeugt. Und dass wir dann Voten nach Rom geben, um einfach zu sagen: Liebe Römer, liebe Weltkirche, die Themen, die wir hier in Deutschland behandeln, sind keine deutschen Themen. Das sind auch eure Themen.
Eva Dieterle: Ja, wir sind mit dem Interview sozusagen schon fast am Ende angekommen. Ich würde gerne noch von Ihnen wissen: Wofür beten Sie, wenn Sie an das Jahr 2022 denken? Für die Menschen, aber vielleicht haben ja auch Sie ganz persönlich noch einen kleinen Wunsch für das kommende Jahr für sich selbst.
Bischof Kohlgraf: Also ich wünsche mir als Bischof, das merke ich, dass die Nerven blank liegen bei vielen Menschen. Ich merke, dass der Ton schärfer wird, dass auch in der Kirche sich Blasen einer bestimmten Wirklichkeitswahrnehmung bilden, ich will es mal so sagen und jeder seine Wirklichkeit für die einzig gültige hält. Ich bete für ein besseres Miteinander und auch Gegensätze auszuhalten und Gegensätze auszutauschen. Im Hinblick auf Corona, aber eben auch auf die genannten kirchlichen Themen.
Eva Dieterle: Und für sich selbst?
Bischof Kohlgraf: Für mich selbst bete ich, die Nerven zu behalten.
Eva Dieterle: Sehr gut. Herr Kohlgraf, vielen Dank, dass Sie heute zwischen den Jahren zu diesem ausführlichen Interview bei uns waren. Dankeschön.
Bischof Kohlgraf: Ich danke auch.