documenta-Skandal – Rücktritt der Leitung gefordert

Die documenta – alle fünf Jahre verwandelt sie Kassel in eine einzige große Ausstellung voller Kunst aus der ganzen Welt. Doch dieses Jahr haben solche Bilder alle anderen überschattet: Sie zeigten offen antisemitische Klischees. Die Generaldirektorin der documenta fifteen, Sabine Schorrman, musste deshalb ihren Posten räumen. Nun fordert die jüdische Werteinitiative auch den Rücktritt ihres Nachfolgers. Eine documenta, die nicht zur Ruhe kommt.

Ein Soldat mit Schweinsgesicht, mit Daviddstern auf dem Halstuch; ein Mann mit jüdischen Schläfenlocken, Vampirzähnen, auf dem Zylinder SS-Runen – die israelische Botschaft nennt das „Propaganda im Goebbels-Stil“ – mitten in Kassel, 2022. Diese Bilder sind Teil der bedeutendsten Ausstellungsreihe für zeitgenössische Kunst – die documenta.
Dabei sollte dieses Mal vieles anders und noch besser werden: Mit der indonesischen Künstlergruppe Ruangrupa übernehmen zum ersten Mal Nicht-Europäer die künstlerische Leitung. Der Blick sollte auf den Perspektiven des globalen Südens liegen – fällt dann aber auf die dunkelsten Stunden deutscher Geschichte.
Kurz nach der Eröffnung wird dieses Banner wegen antisemitischer Inhalte entfernt. Dabei hatte es schon im Vorfeld Kritik gegeben: Einige Künstler sind Sympathisanten der Israel-Boykott-Bewegung, die dem jüdischen Staat das Existenzrecht abspricht; Kritik die von den Verantwortlichen im Vorfeld nicht gehört wurde.
Christian Geselle, SPD, Oberbürgermeister Kassel (17.6.2022)
„Ich empfehle jedem, bevor er vorschnell Worte ergreift, bevor mit der Feder etwas schreibt, genau hinzusehen, genau zu betrachten, was tatsächlich geschehen ist, bevor man vorschnell urteilt und deshalb konnte es gar nicht anders sein, als hie rein klarer Signal für die künstlerische Freiheit zu erhalten.“
Kunstfreiheit auch für Antisemitismus, finanziert mit Millionen Steuergeldern? Mitte Juli tritt die Generaldirektorin der documenta fifteen, Sabine Schormann, zurück. Auch ihr Nachfolger Alexander Farenholtz ist umstritten – so will Farenholtz keine weitere Prüfung verbliebener, womöglich auch antisemitischer Kunstwerke. Ein neues wissenschaftliches Expertengremium, das die documenta begleiten soll, dürfe keine „Kontrollinstanz“ der Kunstfreiheit werden.
Kritik gibt es dafür nicht nur von der jüdischen Werteinitiative: Der Präsident der deutsch-israelischen Gesellschaft Volker Beck spricht von einem Epochenwechsel, da sich die Macher der Kunstschau nicht von Antisemitismus distanziert hätten. Und auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth spricht von einer „Kette der Verantwortungslosigkeit, bei der am Ende keiner verantwortlich gewesen sein will.“
Die Halbzeitbilanz dieser documenta: 400.000 Besucher – und ein Skandal, der lange an der documenta hängen bleiben wird.
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Maike Dickhaus, Moderatorin: Zugeschaltet ist mir jetzt Elio Adler. Er ist der Vorsitzende der jüdischen Werteinitiative und hat in einem offenen Brief den Rücktritt der documenta-Leitung gefordert. Guten Abend, Herr Adler!
Elio Adler, Vorsitzender Jüdische Werteinitiative: Guten Abend.
Dickhaus: Herr Adler, der neue Geschäftsführer ist erst seit wenigen Wochen im Amt. Warum soll er Ihrer Meinung nach schon wieder gehen?
Adler: Man muss sich vor Augen führen, warum Herr Farenholtz überhaupt ins Amt gekommen ist. Weil seine Vorgängerin wegen einem absolut unzulänglichen Umgang mit dem Antisemitismus auf der documenta zurücktreten musste. Das heißt, wenn er mit dieser Überschrift antritt und einer seiner ersten Äußerungen ist, dass er Antisemitismus nicht einordnen könne, dazu nicht sagen könne, er den Antisemitismus nicht erkennen könne in diesen eindeutig antisemitischen Bildern, dann ist das ein Problem. Wenn die jüdische Gemeinde Frankfurt ihm vorwirft, er würde Antisemitismus verharmlosen und er daraufhin sagt, er fühle sich nicht angesprochen und das mit der Vorgeschichte, warum er da überhaupt ist, dann zeigt das, er ist der Situation überhaupt nicht gewachsen.
Dickhaus: Es wurden Kunstwerke entfernt, es wurde eine Expertenkommission eingesetzt – warum reicht Ihnen das nicht?
Adler: Es wurden nicht Kunstwerke entfernt, es wurde ein Kunstwerk entfernt. Eines, was mega offensichtlich antisemitisch war, das große Plakat in der Stadtmitte. Bis heute hängen dort weitere antisemitische Kunstwerke, zum Beispiel die Bilderserie „Gaza Guernica“, wo das Agieren, das Verhalten einer Verteidigungsarmee eines demokratischen Staates gleichgesetzt wird mit Gräueltaten der Wehrmacht. Es gibt dort viele kleine Verharmlosungen von israelbezogenem Judenhass. Die documenta hat eben sehr wenig getan. Ja, die Expertenkommission, die ist sehr richtig, dass sie da ist. Sie ist aber ein halbes Jahr zu spät. Und das Timing führt dazu, dass bis heute dort Antisemitismus ausgestellt ist und bis zum Ende der documenta auch ausgestellt bleiben wird. Und die Ergebnisse werden wir dann irgendwann erst Ende des Jahres, Anfang nächsten Jahres hören. Und das ist einfach zu spät.
Dickhaus: Die documenta ist ein Weltereignis für die moderne Kunst. Was sollte Ihrer Meinung nach getan werden, damit das so bleibt oder hat der Ruf schon zu sehr gelitten?
Adler: Also, der Ruf hat sicher gelitten. Und das Schlimme ist vor allem, dass die hunderten Künstlerinnen und Künstler, die absolut nichts damit zu tun haben, was da gerade an Negativem passiert, darunter leiden und man ihre Kunst unter dem Antisemitismusskandal quasi nicht richtig wahrnehmen kann. Also, das ist ein großes Problem. Für die Zukunft muss man dafür sorgen, dass so was nie wieder passieren darf. Und da ist eine der Maßnahmen dass man ein Regelwerk hat, eine rote Linie definiert, unter der überhaupt staatliche Förderungen, egal ob auf Bundesebene oder auf Landesebene passieren kann. Eine Sache gegen Antisemitismus ist eine sogenannte IHRA Antisemitismus-Definition. Die IHRA hat eine von 44 Staaten adaptierte angenommene Definition verabschiedet, was Antisemitismus eigentlich ist, und Fördergelder dürfen eigentlich nur zur Verfügung gestellt werden, wenn sich Organisationen verpflichten, sich an diese Definition zu halten. Und dann ist es ihre Eigenverantwortung, wie sie das konkret umsetzt. Wir wollen keine staatliche Zensurbehörde oder dergleichen haben, aber es ist Verantwortung und Sache der lokal Verantwortlichen, dafür zu sorgen, dass so was nicht mehr vorkommen kann. Das muss gefördert, das muss gefordert werden und in Förderrichtlinien drinstehen. Insofern muss man sich die Frage stellen, ob Kassel, nachdem wie das bisher gelaufen ist, dazu in der Lage ist. Ich weiß es nicht. Herr Geselle ist in so einer Wagenburgmentalität. Trotzig steht er da und sagt: „Ich lasse mir von keinem was sagen“. Das wiederum ist super schädlich für die documenta und ist ein Problem für einen Neu-, einen Wiederanfang, ein Neuanfang dieser doch sehr schönen, wichtigen Messe.
Dickhaus: Wie beurteilen Sie generell die Diskussion über die documenta? Haben Sie den Eindruck, dass die Antisemitismus-Problematik ernst genug genommen wird?
Adler: Also, aus großen Medien und auch aus weiten Teilen der Bundesregierung hört man da sehr richtige und sehr gute Kommentierungen zu. Fakt ist aber, wir erleben immer wieder, so leicht es fällt, rechten Judenhass wahrzunehmen. Das kennt man, sozusagen Nazi-Symbol-Sprache. So ist es noch einigermaßen verständlich, wenn so islamistischer Judenhass, messerschwingende Bartträger irgendwas verbreiten. Aber Judenhass aus so einer anscheinend progressiven, tendenziell linken Ecke ist viel schwerer zu erkennen. Dass also Judenhass hier den Umweg geht, indem Kritik an Israel, was ja alles sein kann, aber so läuft, dass es eine absurde Dämonisierung ist, dass ist so keine Israelkritik, sondern Israelfeindlichkeit und Hass darstellt, das ist viel schwerer zu erkennen. Und da erleben wir eben, dass es anscheinend noch großen Nachholbedarf gibt. Und nochmal: Ja, die lokal Verantwortlichen in Kassel haben auch gezeigt, dass sie sich eher wegducken wollen, statt sich der Sache zu stellen. Und das ist das besonders Traurige daran.
Dickhaus: Ihr Verein, die jüdische Werte-Initiative, hat sich die Sicherung der jüdischen Zukunft in Deutschland zum Ziel gesetzt? Heißt das, diese Zukunft ist für Sie gefährdet?
Adler: All das sind wir absolut der Meinung. Diese Werte beziehen sich nicht auf jüdische Werte, sondern die Werte, die wir meinen, sind Grundgesetzwerte und wir glauben, dass die freiheitlich demokratische Gesellschaft sehr stark in Gefahr ist, und so was wie die documenta ist eben ein kleines Unterthema, wo es darum geht, wen fördern wir als Staat, wenn wir Steuergeld zur Verfügung stellen zu einer löblichen Sache, nämlich Kunstförderung, wie stellen wir sicher, dass das nicht gegen das Zusammenleben gebraucht wird, sondern dem Zusammenleben dient, auch einem pluralistischen Zusammenleben dient, aber eben in Grenzen, in einem klaren Rahmen. Wir als jüdische Bürgerinnen und Bürger erleben ganz viel Hass. Das ist für uns ein Dauerthema. Wir kriegen es von rechts ab, wir kriegen von links ab, wir kriegen es von Islamisten ab, von Leuten, die sich auf Querdenkerdemos neben irgendwelche massiven Judenhasser stellen. Das heißt, wenn wir erleben, wie die Gesellschaft gerade von allen Seiten unter Druck ist, sich das an jüdischen Bürgerinnen und Bürgern kristallisiert, dann sind wir sehr sensibel und sind wir sehr aufgeschreckt und beunruhigt und erwarten, dass man sich an unsere Seite stellt. Denn wer sich an die Seite von Juden und Jüdinnen stellt, stellt sich automatisch an die Seite einer freiheitlichen Demokratie, die von einem Rechtsstaat geschützt wird. Und das ist die Basis, die wir eigentlich alle zusammenleben wollen.
Dickhaus: Die Einschätzung von Elio Adler, dem Vorsitzenden der jüdischen Werteinitiative. Vielen Dank fürs Gespräch!
Adler: Sehr gerne.