Diskussion um Boostern und Impfpflicht – Studiogespräch mit Impfkoordinator Daniel Stich

Es ist ein riesiger Ansturm, der gerade auf die Ärzte zukommt. „Boostern“ ist das Wort der Stunde. Der Ansturm kommt nicht überraschend und trotzdem wirkt die Politik unvorbereitet. Wir sprechen mit dem rheinland-pfälzischen Impfkoordinator Daniel Stich darüber, wie das Land die Lage in den Griff bekommen will. Vorher verschaffen wir uns einen Überblick über die aktuelle Situation in Rheinland-Pfalz.

Auf drei bis vier Stunden Wartezeit sollte man einstellen, wenn man sich heute hier in der Mainzer Innenstadt gegen Covid-19 impfen lassen will. Die meisten, die hier anstehen, warten auf ihre dritte Spritze.
Christina Hartel
„Mein Arzt hat mir gesagt, im Januar, Februar kann ich erst geimpft werden. Und das dauert mir doch zu lange.“
Thomas Moritz
„Hausarzt impft leider erst ab 70, beziehungsweise macht die Booster-Impfung erst ab 70. Von daher war das keine Option für mich, so lang noch zu warten. Ich wollt‘s schnell über die Bühne kriegen.“
Ralf Lehrbach
„Selbst im Impfzentrum dauert‘s ja dann auch mit Terminen. Und wir wollten beide geimpft werden, meine Frau und ich, und dann macht man‘s halt. Und dann ist es erledigt, fertig, aus.“
Voraussetzung um hier die Auffrischung zu erhalten: Mindestens sechs Monate müssen seit der Zweitimpfung vergangen sein. Das Alter ist egal. Anders als bei den meisten Hausärzten. Sie orientieren sich an der aktuellen Empfehlung der Ständigen Impfkommission – Boostern erst ab siebzig – und sind damit schon voll ausgelastet.
Dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gestern dazu aufgerufen hat, diese Vorgabe nicht zu ernst zu nehmen und auch Jüngere zu impfen, macht das Chaos perfekt.
In einem Schreiben, das uns vorliegt, teilt Spahn allen Vertragsärzten in Deutschland mit:
Jens Spahn, CDU, geschäftsführender Bundesgesundheitsminister
„Sie können […] jede Patientin und jeden Patienten ab 18 Jahren, auch wenn sie nicht zu den Risikogruppen gemäß der aktuellen STIKO-Empfehlung wie ältere Personen, Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen sowie medizinisches und pflegerisches Personal gehören, zeitnah und auch vor Ablauf der sechs Monate im eigenen Ermessen impfen.“
Der Hausärzteverband lässt sich von dem Schreiben nicht unter Druck setzen. Er ruft seine Mitglieder auf, sich nicht von der Politik beeinflussen zu lassen und beim Impfen weiterhin den Fokus auf die Patientengruppen zu legen, die am gefährdetsten sind.
Christian Sommerbrodt, Vorstand Hausärzteverband Hessen
„Und da brauchen wir natürlich auch eine gewisse Reihenfolge. Und im Rahmen einer Pandemie ist es letztendlich eine politische Führungsaufgabe das zu organisieren. Und das Chaos im Grunde genommen einfach nur den freien Lauf zu lassen und das in die Praxen zu tragen, das ist sicherlich bei einer Pandemieabwehr nicht dienlich.“
Um die niedergelassenen Ärzte zu entlasten, hat die Landesregierung angekündigt, dass ab kommendem Mittwoch acht Landesimpfzentren die Arbeit wiederaufnehmen. Zusätzlich bieten, Stand jetzt, 21 Krankenhäuser Impfungen ohne vorherige Terminabsprache an. Ergänzt wird das Angebot von zwölf Impfbussen, die vorwiegend Regionen ansteuern sollen, in denen es keine stationären Angebote gibt.
Impfen, impfen, impfen ist die Devise. Mehr und mehr Bundesländer führen eine flächendeckende 2G-Regelung ein, Ungeimpfte können immer weniger am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Gleichzeitig wird der Ruf nach einer Impfpflicht immer lauter. Rechtsexperten halten sie für zulässig.
Prof. Friedhelm Hufen, Experte für Verfassungsrecht
„Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der Impfgegner würde eingeschränkt durch eine Impfpflicht. Aber Eingriffe sind nach unserer Verfassungsordnung möglich auf gesetzlicher Grundlage, wenn sie notwendig sind, um andere Rechtsgüter zu schützen. Und die Freiheit der anderen und die körperliche Unversehrtheit auch der Geimpften und der Nichtimpfbaren oder auch der anderen Impfgegner, die sind zu schützen. Da hat der Staat eine Einstandspflicht und das darf er auch durch Einführung einer Impfpflicht. Wenn das wirklich erforderlich und das letzte Mittel ist.“
Noch aber hofft die Politik, die Menschen ohne Zwang zum Impfen zu bewegen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen.
Zumindest bei diesen Mainzern hat das geklappt. Hier waren heute sogar mehr Impfwillige als verfügbarer Impfstoff.
Eva Dieterle, Moderatorin: Ja, da sind noch viele Fragen offen. Über die möchten wir jetzt sprechen mit Daniel Stich. Er ist der Koordinator des Landes Rheinland-Pfalz. Guten Abend!
Daniel Stich, SPD, Impfkoordinator Rheinland-Pfalz: Guten Abend.
Dieterle: Herr Stich, dass wir jetzt auf einmal wieder so viele Impfstationen brauchen, dass die Hausärzte überfordert sind, war das nicht absehbar?
Stich: Wir haben vor einiger Zeit oder letzte Woche eine gemeinsame neue Lagebewertung vorgenommen mit den Hausärzten, aber auch mit der kommunalen Familie und kamen dann zu dem Eindruck, dass es gut ist, Entlastung zu schaffen. Die Situation in den Praxen ist angespannt. Die Situation rund um die Impfbusse sind nicht mehr so, dass wir das so laufen lassen können. Und deswegen haben wir uns entschieden zu handeln und deswegen diese Woche diese acht Impfzentren geöffnet.
Dieterle: Dass diese Zentren überhaupt geschlossen wurden, war das nicht ein Fehler? Hätten sie nicht sehr viel früher und auch offensiver werben sollen für die Booster-Impfung, damit diese Zentren ausgelastet sind und gar nicht hätten geschlossen werden müssen?
Stich: Es war so, dass zum 30.09. die Impfzentren auf Druck auch des Bundes geschlossen werden mussten. Es gab damals die Verabredung – auch auf Seiten des Bundes -, dass die niedergelassene Ärzteschaft das Thema Auffrischungsimpfung gut im Regelsystem abwickeln kann und dass wir natürlich auch das mehr, was wir uns gewünscht haben und nach wie vor Wünsche an Erst- und Zweit-Impfung über die niedergelassenen Ärzte gut hinbekommen. Das ist jetzt mal verschüttete Milch. Wir haben in Rheinland-Pfalz bewusst Standby-Impfzentren aufrechterhalten, was uns jetzt wirklich sehr, sehr rasch ermöglicht, zu handeln und innerhalb einer Wochenfrist auch diese wieder ins Laufen zu kriegen, damit mehr Menschen ihre Booster-Impfung bekommen.
Aber – das ist ganz, ganz wichtig – wir wollen uns aus dieser Pandemie rausimpfen und rausboostern. Das heißt, der Blick geht auch nach wie vor Richtung Erst- und Zweit-Impfung.
Dieterle: Was halten Sie von einer Priorisierung beim Boostern?
Stich: De facto ist es so: Wir halten uns daran, dass wir den Booster-Termin erst nach sechs Monaten, sprich: nach der zweiten Impfung. Sechs Monate danach kann ich erst geboostert werden. Und da es zu Beginn der Impfkampagne eine Priorisierung gab und wir sechs Monate einhalten, wird es auch so sein, dass vulnerable Gruppen, ältere Menschen vor anderen dran sind. Insofern: durch diese sechs Monatsfrist ist auch eine gewisse Priorisierung damit verbunden.
Dieterle: Haben Sie denn in Rheinland-Pfalz noch Ideen, wie Sie Impfgegner oder auch Impfzweifler noch überzeugen können?
Stich: Wir sind dabei, dass wir den Leuten, die skeptisch sind, die Bedenken haben, nach wie vor mit Informationsmaterial zu entgegnen. Wir haben in der LZG ein Programm aufgelegt, die sogenannten „Impflotsen“, um aufsuchende Gesundheits-Präventionsarbeit und Impfarbeit zu leisten. Das heißt, Menschen im Alltag in den Wohnquartieren abzuholen, an den Haustüren zu klingeln und zu informieren – sehr, sehr niedrigschwellig. Damit werden wir, glaube ich, noch einen Großteil der Leute, die nicht geimpft sind, erreichen können. Es gibt aber – und so offen muss man sein – einen gewissen Prozentsatz, der ist für kein Argument zugänglich. Das ist auch leider Gottes Teil der Wahrheit. Und trotzdem wollen wir diese Impfquote so hoch wie irgendwie möglich in Rheinland-Pfalz bekommen.
Dieterle: Und der Prozentsatz ist gar nicht mal so klein, den Sie gerade angesprochen haben. Deswegen tobt ja auch schon lange bei uns die Diskussion über eine Impfpflicht. Sollte die Politik angesichts der neuen Zahlen, angesichts der neuen, sich verschärfenden Situation nicht auch diese Frage noch mal komplett neu bewerten? Wie stehen Sie inzwischen zu einer Impfpflicht?
Stich: Es ist so: Es gibt verfassungsrechtlich hohe Hürden für eine Impfpflicht. Auch beim Thema Masern hat das eine ganz große, eine lange Zeit bedarft und bedurft. Und die Diskussion läuft ja. Sie wird ja auch vorgebracht von vielen Medizinern im Land. Es ist eine Sache des Bundes. Und wir im Land, ich als Koordinator im Land, kann ich jetzt mich einer theoretischen Diskussion beteiligen. Ich will diese Quote nach oben bringen, auch ohne Impfpflicht. Es gibt Argumente dafür und Argumente dagegen. Aber das muss der Bund regeln. Und bis eine Impfpflicht eventuell juristisch sauber in Kraft treten könnte, ist, glaube ich, schon weit im nächsten Jahr und wir müssen jetzt handeln. Wir haben jetzt die Impfzentren geöffnet, wir haben die Impfung verdoppelt, wir haben die LZG mit den Impflotsen ins Land geschickt, um das zu tun, was in unserer Hand liegt. Das andere muss man auf Bundesebene regeln.
Dieterle: Es gibt einen weiteren Punkt, der die Situation entschärfen könnte und das ist der Impfstoff selbst. Und wir schauen uns mal an, was Virologe Alexander Kekulé gesagt hat. Er fordert mehr politischen Druck auf die Impfstoff hersteller, damit sie die Bereitstellung neuer Impfstoffe gegen das Corunavirus vorantreiben. Damit ist ganz klar auch BioNTech in Mainz gemeint. Das möchte ich weitergeben an Sie. Wie kann es sein, dass wir noch keinen Impfstoff-Update haben auf dem Markt, das auch wirksamer ist gegen die Delta-Variante?
Stich: Es ist so, dass der aktuelle Impfstoff wirkt, dass BioNTech beispielsweise auch im Zulassungsverfahren ist für Kinder unter zwölf Jahren. Und alle Studien zeigen, dass nach wie vor der Impfstoff, den wir haben von Biotech beispielsweise hoch wirksam ist, auch bei der Delta-Variante. Unser Problem ist nicht die Wirksamkeit des Impfstoffs. Unser Problem ist, dass wir zu viele Ungeimpfte haben in unserer Gesellschaft. Es ist die vierte Welle der Ungeimpften und darum muss der Fokus auch liegen.
Dieterle: Stehen Sie denn mit BioNTech in engem Austausch, ob es da noch mal eine Neuauflage des Impfstoffs geben wird?
Stich: BioNTech ist in guten Gesprächen so mit der Bundesebene als auch mit uns. Es ist ein toller Hersteller, wir sind stolz darauf, in Rheinland-Pfalz mit BioNTech sozusagen die „Apotheke der Welt“ zu sein. Da gibt es gute Verbindungen hin und noch einmal: Deswegen geht auch der Blick Richtung Ungeimpfte. Da liegt der Schlüssel zum Erfolg, zur Bekämpfung dieser Pandemie.
Dieterle: Es bleibt eine angespannte Situation, viel zu tun. Auch für Sie, Herr Stich. Vielen Dank, dass Sie heute zum Interview hier waren.
Stich: Vielen Dank.