Zunehmender Antisemitismus – Im Gespräch mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Frankfurt

Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich alles verändert, sagt auch Benjamin Graumann, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

Markus Appelmann, Moderator:
Guten Tag.
Benjamin Graumann, Vorstandsvorsitzender Jüdische Gemeinde Frankfurt:
Guten Tag.
Appelmann:
Lassen Sie uns persönlich starten. Wo und in welcher Form erleben Sie oder auch Ihre Mitglieder der jüdischen Gemeinde Antisemitismus im Alltag?
Graumann:
Ganz unterschiedlich. Es gibt Judenhass auf offener Straße, in Schulhöfen, auf Sportplätzen, in Universitäten und natürlich ganz besonders stark in den sozialen Medien. Es gibt ganz offene Angriffe, und es gibt ganz subtile Angriffe. Beides ist gleichermaßen hart, beides trifft uns gleichermaßen hart. Und beides tut auch gleichermaßen weh. Und weh tut auch das: Viel zu viele schweigen und viel zu viele, glaube ich, die nicht verstanden haben, dass Angriffe auf Juden auch immer Angriffe sind auf unsere Demokratie. Und wenn Juden in Deutschland nicht frei und sicher leben können, dann haben wir als Gesamtgesellschaft versagt. Wer beim Kampf gegen Judenhass zögert oder schweigt, der lässt den Hass gewinnen.
Appelmann:
In einem Gastbeitrag in der FAZ haben Sie gesagt, Israel werde dämonisiert. Es scheine, dass nach und nach alle Masken fallen. Was genau haben Sie damit gemeint?
Graumann:
Nun, wenn beispielsweise der 07. Oktober in vielen Berichterstattungen nicht mehr auftaucht, wenn die Hamas eine bestialische und barbarische Terrororganisation gleichgestellt wird mit dem demokratischen Land wie Israel, dann ist eine Grenze überschritten. Wenn die Massaker vom 07. Oktober 2023 als Widerstandskämpfer gefeiert werden auf deutschen Straßen, ist eine Grenze überschritten. Das hat nichts mit legitimer Kritik zu tun. Das ist Gewaltverherrlichung. Und ich glaube, dass viel zu viele nicht verstanden haben. Viele schreien „Israel“ und meinen am Ende doch nur Juden. Und wer das tatsächlich leugnet, der wird den Kampf gegen Judenhass ganz gewiss niemals gewinnen können.
Appelmann:
Jetzt wird heute zum Jahrestag wieder demonstriert: Propalästinensische Gruppen gehen in Frankfurt auf die Straßen. In der Einladung ist von „Gedenken an die Märtyrer in Palästina“ die Rede. Was geht Ihnen da durch den Kopf, wenn Sie an diese Demo denken?
Graumann:
Ich finde es unerträglich, dass so eine Demo hier bei uns in Frankfurt stattfindet. Ausgerechnet am 07. Oktober. Dort werden Terroristen zu Märtyrern verklärt, dort wird zu Gewalt aufgerufen, dort werden die schlimmsten Verbrechen legitimiert. Das ist unerträglich. Das ist keine Demonstration des Friedens, das ist eine Demonstration des Hasses und der Hetze. Und es ist nicht nur eine Provokation, es ist auch nicht von der Meinungs- und Versammlungsfreiheit gedeckt. Und deswegen gehört diese Demonstration verboten.
Appelmann:
Unter anderem der hessische Innenminister Roman Poseck setzt immer wieder Zeichen gegen Antisemitismus – gegen Judenhass. Erhalten Sie genügend Unterstützung von der Politik und von der Gesellschaft im Allgemeinen?
Graumann:
Wir würden uns eine viel lautere Gesellschaft wünschen, weil, wie ich schon gesagt habe, Angriffe auf Juden sind immer auch Angriffe auf unsere Demokratie. Und bei der Politik, ja, gibt es klare und sichtbare Zeichen. Aber wissen Sie, wir hören an Gedenktagen immer wieder die Worte „Nie wieder“. Aber „Nie wieder“ bedeutet gar nichts, wenn keine konkreten Maßnahmen getroffen werden. Wir brauchen weniger Floskeln und mehr konkrete Taten. Wir brauchen weniger Sonntagsreden und mehr Selbstkritik, vielleicht auch aus der Politik. Und wir brauchen mehr als nur heiße Tränen des Bundeskanzlers, sondern wir brauchen klare Konsequenzen, um den Antisemitismus zu bekämpfen.
Appelmann:
Der zweite Jahrestag des Hamas-Angriffs auf Israel – Benjamin Graumann von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, danke.
Graumann:
Herzlichen Dank.